Kapitel 2

Wojtyla ruft, Ratzinger antwortet

Der Abend des 25. März 2005 im Kolosseum hat in den Meditationen von Kardinal Ratzinger Eindruck gemacht. Und er hat in dieser heiligen Woche mehr gesagt, als man sonst erwarten würde. Es war so etwas wie ein spirituelles Testament des alten kranken Papstes, welches sein vertrauensvollster Freund, nämlich Ratzinger, vorgetragen hat. Zitat: „Wie oft sind die Machtdemonstrationen der Mächtigen dieser Welt gegen Wahrheit, gegen die Gerechtigkeit und gegen die Wahrheit des Menschen gerichtet? Gott, Du hast Dich zum Mensch gemacht, erniedrigen lassen, hilf uns, um den Spott der Welt zu ertragen und auch zu ertragen, wenn der Glaube an Dich ins Lächerliche gezogen wird.“

Die Predigten von Ratzinger an jenem Abend sind bewegend und manche Gedanken haben einen prophetischen Charakter, wie er den Fall Jesus oder auch den Fall Adams darstellt. „Man kann dran denken, dass das Christentum in dieser heutigen Zeit den Gott, den Herrn, verlassen hat. Die großen Ideologien und auch die Banalisierung des Menschen hat ein neues Heidentum etabliert und ein Heidentum, das schlimmer gar nicht sein könnte, welches Gott komplett verlassen will und nun auf den Menschen selbst reduziert. Der Mensch treibt so im Staub. Der Herr trägt dieses Gewicht und ER sinkt zu uns herab, um uns anzuschauen und um uns zum wieder aufsteigen zu bewegen.“ Und in der Predigt sagt Ratzinger: „Gott, zerstör die Ideologien, weil die Menschen nicht mehr das Wahre erkennen können. Lass es nicht zu, dass die Mauer des Materialismus unüberwindbar wird.“

Und in diesem Kontext hat Ratzinger jene Worte formuliert, die vielleicht am bewegendsten sind. „Was bedeutet der dritte Fall Jesu unter dem Kreuz? Vielleicht will er uns vergegenwärtigen, wie auch der Mensch selbst gefallen ist in einer Zeit ohne Christus. Aber man kann auch an das Fallen der Kirche denken. Wie oft denkt die Kirche, denken die Kirchenleute nur an sich selbst und nicht an Gott? Wie oft wird die Stimme Gottes, das Wort Gottes, verfälscht und verzerrt? Wie wenig glauben ist in bestimmten Theorien? Und wie viel Schmutz ist in der Kirche, auch unter jenen, die komplett Jesus gehören sollten? Wie viel Stolz und wie viel Selbstgenügsamkeit ist in unsren Reihen? Wie wenig respektieren wir selbst das Sakrament, um selbst wieder aufzustehen aus unserem Fallen?’

Es wäre falsch, wenn man das, was Ratzinger gepredigt hat, als eine einfache moralische Predigt hintun würde. Sie ist hingegen eine dramatische Darstellung der Situation der Kirche selbst, des moralischen Zerfalls und doktrinärer Verfehlungen. Das alles ist für die Kirche ein moralisches Risiko. Die folgende Predigt hat Ratzinger mit viel Klarheit formuliert. Er sagt: „Gott, oft ist die Kirche, wie ein Schiff, das im Sinken ist. Das beschmutzte Gesicht, das beschmutzte Kleid der Kirche versinkt so gesehen. Aber es sind wir selbst, die dieses Kleid beschmutzen. Wir selbst, die es verraten, nach allen unseren großen Worten und unseren großen Gesten. Habe Mitleid mit Deiner Kirche, auch im Innern dieser. Adam fällt immer wieder von selbst neu. Mit unserem Verfall wird Satan lachen, weil er glaubt, dass er in unserem Fall seine eigene Auferstehung feiern kann.“

Ratzinger hat dann auch folgenden Worte noch gesagt: „Hilf uns ohne Fluchtwege, hilf uns, nicht zu flüchten.“ Vielleicht wusste Ratzinger damals schon, was ihn erwarten würde. Nach dem Tod von Wojtyla, 20 Tage später, hat er seine Predigt mit folgenden Worten begonnen: „Betet für mich, damit ich nicht flüchte aus Angst vor den Wölfen.“ Wenige Tage später am 1. April spricht der Kardinal in Subiaco. Dort spricht er von einem Moment der großen Gefahren, aber auch von großen Möglichkeiten für den Menschen. Der Mensch habe die Selbstmanipulation errungen und er würde die Welt verschmutzen, die Welt in Armut ausfallen lassen und auch Epidemien verursachen. Und das sei Ursache einer Wissenschaft, die sich selbst keine Grenzen mehr setzen will.“

Mit diesen Worten hat sich Ratzinger auf Europa konzentriert, das einst Vertreter des Christentums war und heute zum Vertreter des Antichristentums geworden sei. Und er sagt weiter: „Wir haben eine große Verantwortung für die Menschheit. Und wenn man sich nur noch auf den Menschen selbst bezieht und Gott vergisst, dann ist das der Untergang des Menschen selbst. Wir haben Menschen notwendig, die Gott ansehen und die auch sein Recht vertreten, die von Gott geführt werden und die auch Gott zurückbringen in die Welt.“

Am Tag darauf stirbt Johannes Paul II. Kardinal Ratzinger muss die Messe des Papsttodes einleiten. In seiner Predigt geht er sofort zum Herzen des Problems, wenn er nämlich sagt: „Wie viele Winde von Doktrinen haben wir in den letzten Jahrzehnten erleben müssen, wie viele Ideologien und wie viele Moden der Gedanken? Das kleine Schiff des Glaubens vieler Christen ist diesen Jahren von einem Extrem zum andern hingeworfen worden, vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus, vom Kollektivismus zum Individualismus radikaler Art, vom Atheismus zu einer mystischen Religion, vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter. Jeden Tag entstehen neue solcher Gedanken. Wenn man einen Glauben hat, dann wird das so oft als Fundamentalismus etikettiert. Hingegen ist Relativismus, der für sich beansprucht, dass man jede Doktrin mit sich tragen kann, dass sie die einzige Ideologie der Moderne wird. Und es hat sich so eine Diktatur des Relativismus etabliert, die keine Wahrheit mehr als solche anerkennen will. Wir haben hingegen ein anderes Maß und das ist der Sohn Gottes, der echte Mensch. Wir müssen diesen Glauben maturieren und es ist dieser Glaube, nur dieser Glaube, der Einheit schafft und sich auch in der Barmherzigkeit manifestiert.“

Ratzinger stellt dann auch die Frage nach dem Sinn des Lebens, nämlich: Wir haben das Leben geschenkt bekommen und wir müssen es auch an andere weitergeben. Wir müssen die Frucht weitergeben. Und diese Frucht ist die Liebe, das Wissen, auch die Fähigkeit, Herzen zu berühren und Worte zu finden, die den heiligen Geist und die Freude Gottes öffnen.

Als Ratzinger von der Diktatur des Relativismus gesprochen hat, hat er viele Gegner und viele öffentliche Kritik ist ihm widerfahren. Ratzinger wollte damit aber die Wahrheit ansprechen, auch wenn die Welt selbst und auch viele katholische Kreise ihm diese wahren Worte übel genommen haben. Und diese Worte haben schockiert, denn Ratzinger hat immer das Gefühl gegeben, dass er alles getan hätte, um nicht Papst zu werden. Und Ratzinger ist sicherlich auch eine Persönlichkeit, die nie Karriereplanungen für sich gemacht hat. Marco de Milano hat zu dieser Predigt geschrieben: „Man hat noch nie einen Kandidaten für das Papstamt gesehen, der sein Programm mit solcher Klarheit, Brutalität und auch auf Kosten der Einheit der Kirche geführt hat.“

Vielleicht wollte Ratzinger damit aber auch seine Wahl verhindern. Sicher dürfte sein hingegen, dass Ratzinger keine Kalkulationen gemacht hat, sondern dass er das machte, was er immer getan hat, schonungslos die Wahrheit ansprechen. Er ist das Gegenteil jenes Menschen, der gefallen will, und das Gegenteil jener Persönlichkeiten, die aus den Tribünen der Medien Worte des Antiklerikalismus predigen, wie z.B.: Gott ist nicht katholisch.

Paul VI., wie auch Johannes Paul II. haben alle den Weg verfolgt, den auch Ratzinger verfolgt hat. Ratzinger hat als Bischof von München mit folgenden Worten auch den Tod von Paul VI. kommentiert: „Ein Papst, der nicht mediale Kritik erhalten würde, würde seine Arbeit falsch machen. Paul VI. hat allen Formen von Medienkratie und Demoskopie widerstanden. Er hat es machen können, weil er nie den Erfolg als Parameter hatte, sondern immer das Wissen über die Wahrheit und über den Glauben.“

Und Ratzinger hat auch im Zuge der Heiligsprechung von Johannes Paul II. — oder zu Beginn des Prozesses der Heiligsprechung — folgende Worte formuliert: „Johannes Paul wollte nie Applaus für sich beanspruchen, er hat immer im Sinne des Glaubens und seiner Überzeugungen gehandelt. Und das war auch der Mut zur Wahrheit, die für mich ein erstes Parameter für die Heiligkeit sein sollen. Nur wenn man seine Beziehung zu Gott verstehen kann, kann man auch seine Leistungen verstehen.“

Der bayrische Prälat Ratzinger, der in der sixtinischen Kapelle gewählt wurde, hat dort öfters die Worte gebraucht: „Gott, bitte setze jüngere Leute ein!“ Aber es hätte nur er selbst jenen Auftrag und jene Mission erfüllen können, die für ihn vorbereitet war. Denn das Volk selbst wollte an Johannes Paul II. festhalten und nur Ratzinger hätte diese Aufgabe und diese Mission fortsetzen können. Und die Aufgabe an Ratzinger war jene, den wirklichen Gedanken des Konzils zu erfüllen. Und so hat auch Don Luigi Giussani wenige Zeit davor folgende Worte formuliert: „In einem Moment wie heute muss die Kirche von Gott getrieben sein und sie muss alle Wahrheit predigen, die in ihr selbst vertreten ist. Da ist auch jenes, wie bereits im 18. Jahrhundert passiert ist mit dem sogenannten Syllabus errorum, dem Verzeichnis der Irrtümer. Deswegen, für diese Wahrheit, ist dieser Syllabus auch gehasst. Heute hingegen ist der Modernismus überall. Wenn Gott die Kirche nicht zu einem Eingreifen zwingt, dann wird sie eine Phase und ein Gewitter des Zweifels und der Unentschlossenheit wahrnehmen müssen. Man muss zur heiligen Jungfrau Maria beten, dass sie dieser Kirche eine klare Führung und klare Dokumente schenkt.“