Kapitel 5

Kathechon

Wenn man die acht Jahre von Benedikt XVI. analysiert, dann muss man sagen, dass er die kirchliche Lehre um ein Vielfaches vergrößert hat. Er war es, der Licht in das Dunkle hat bringen können. Und dieses Wissen und diese Gelehrtheit hat auch Nichtchristen beeindruckt. Ich denke an liberale Intellektuelle wie Marcello Pera, Giuliano Ferrara, Ernesto Galli della Loggia, aber auch Linksintellektuelle wie Jürgen Habermas, aber auch der Intellektuelle Alexander Langer, der bereits am 7. Mai 1987 einen Aufsatz zu Ratzinger geschrieben hat und die Frage aufgeworfen hat, ob dieser vielleicht Recht haben könnte.

In einem epochalen Artikel in der Zeitung „Corriere della Sera“ vom 20. Januar 2010 hat der Intellektuelle, jüdisch-französischer Herkunft, Bernard-Henri Lévy perfekt das Wesen von Benedikt auf den Punkt gebracht. Er zitiert: „Man muss aufhören mit dem Misstrauen und der Dagegenhaltung immer dann, wenn es um Benedikt geht. Seit seiner Wahl hat man ständig versucht, ihn als den Ultrakonservativen darzustellen, vor allem in den Massenmedien. Aber was kann ein Papst anderes sein als konservativ?“

Effektiv haben in den letzten Jahren in Italien auch einige marxistische Intellektuelle Benedikt als das hingestellt, was er für viele war, nämlich ein Leuchtturm in den nihilistischen Ruinen unserer Zeit. Ich spreche hier von sogenannten marxistischen Ratzingerianern, also vier Persönlichkeiten, die alle aus der kommunistischen Partei stammen: der Historiker Giuseppe Wacker, Präsident des Gramsci-Instituts, der Philosoph Mario Tronti, einer der Gründer der „Quaderni Rossi“, also der roten Hefte und heute Vorsitzender des Institutes Zentrum für die Reform des Staates, unter anderem auch Senator, der Philosoph Pietro Barcellona, der Abgeordneter war für die Kommunisten, und zuletzt der Soziologe Paolo Sorbi, der Einzige unter diesen Genannten, der seit Längerem Katholik war, aber auch ein Marxist.

Deren Manifest vom Oktober 2011 war eine Erklärung gegen die Manipulation des Lebens, und es wurde darin nur eine anthropologische Notwendigkeit angeklagt sowie eine Krisis der Demokratie. Diese Intellektuellen haben einen Aufruf gestartet an die Partei Pd, in welchem sie folgende zwei Punkte zur Ansprache gebracht haben: Erstens den Abgang vom ethischen Relativismus und zweitens das Konzept von nichtverhandelbaren Werten. Das Dokument enthielt aber auch Gedanken über die Freiheit und Würde der Person ab der Zeugung. Es wurde daraufhin bestätigt, dass in diesem Dokument direkte Anleihen an Papst Benedikt gemacht wurden.

Die vier hatten die Linke aufgefordert, von ihrer radikalen Kultur abzugehen, und sie wollten 2013 einen Konvent organisieren, in welchem die anthropologische Vision von Benedikt behandelt werden sollte. So hat beispielsweise Mario Tronti gesagt, die Linke müsse von ihren Gemeinplätzen abkommen und sie müsse endlich auch Diskussionen führen über nichtverhandelbare Prinzipien, und dabei auch den Dialog mit Josef Ratzinger suchen und finden.

Und auch Giuseppe Wacker greift das Thema der Familie und der Homopaare auf, und er sagt dazu, dass auch im Sinne der gemeinsamen Moral es schwer ist, wenn man das Entscheiden über das Leben als etwas Individuelles auffasst. Denn kein Mensch kann sich selbst zeugen. Das gelte auch für die Homopaare. Denn die Verfassung entscheide, was Familie ist und was nicht. Liebe und Solidarität seien wichtig, aber was Familie ist, das sind die Generationen und das Recht der Neugeborenen, dass sie von einer Mutter und einem Vater großgezogen werden.

Es ist wohl nie so vorgekommen, dass eine linke intellektuelle Gruppe bei einem Papst so viele intellektuelle Anleihen gefunden hat. Das gab es vorher nur vereinzelt, etwa in Max Horkheimer, der bereits gegen die Empfängnisverhütungspille aufgetreten ist und dabei auch bei der Schrift Humanae Vitae, die vom Paul VI. berücksichtigt worden ist. Oder aber die Haltung gegen die Abtreibung, die z. B. von Pier Paolo Pasolini und Norberto Bobbio vertreten wurde.

Aber zurück zum Magistrat von Benedikt dem XVI.: Da ist etwas Außerordentliches passiert, nämlich eine unvorhergesehene Allianz zur Verteidigung der nicht verhandelbaren Werte, die von der linken, marxistischen und liberalen Seite vertreten wurde. Benedikt hat immer behauptet, man müsse gerade in einer Kultur wie der unseren auch Werte festsetzen, die nicht verhandelbar sind und die außerhalb dieser liberalen Kultur stehen. Und die können nur in der Religion, also in der Natur des Menschen selbst verankert sein. Und es war für Benedikt die Voraussetzung für den Frieden, dass man die Diktatur des Relativismus entmantelt. Dabei sprach er auch die Ehe zwischen Mann und Frau an, die man nicht entmanteln und entwürdigen dürfe.

Diese große Allianz, kulturelle Allianz rund um Papst Benedikt hat sich dann am 26. Oktober 2013 in einem Konvent verdeutlicht, wo verschiedene Ratzinger-Marxisten gemeinsam mit liberalen Ratzinger-Anhängern der Stiftung Magna Charta, mit Politikern wie Gaetano Quagliariello, Maurizio Sacconi oder Eugenia Roccella, die alle aus dem radikalen und sozialistischem Umfeld kommen, getagt haben. Und das Zentrum dieser Übereinkunft, dieser Zusammenkunft war gerade Papst Benedikt. Und auf diesem Konvent hat einer der wichtigsten marxistischen Gelehrten, nämlich Mario Tronti, sogar gesagt, dass Ratzinger es geschafft habe, in einem heroischen Versuch, die postmodernen Formen des Antichristen klar zu umranden. Und mit Antichrist meinte er die Herrschaft einer antihumanen Kultur.

Ein anderer linker Mitstreiter, Massimo Cacciari, hatte hingegen noch 1993 in einem Interview gesagt, der Papst müsse damit aufhören, den Kathechon zu spielen. Kathechon bedeutet, dass man jeden bezeichneten Antichristen verhindert. Davon spricht der heilige Paulus im 2. Brief an die Thessalonicher. Wenn das sogar stimmt, was Tronti gesagt hat, kann man dann Benedikt seine moderne Form des Kathechon bezeichnen?

Es gibt einen Passus in der Enzyklika Spes Salvi, die 2007 veröffentlicht wurde, in welcher Benedikt die Figur des Antichristen beschreibt, wo er aber nicht die normalen Bezeichnungen wählt, sondern Bezeichnungen, die eigentlich von Emmanuel Kant stammen und die eine typische intellektuelle Spielerei von Benedikt gewesen sind. Kant schreibt nämlich: „Wenn das Christentum irgendwann nicht mehr von der Liebe getrieben ist, dann wird das Aufbegehren gegen die Liebe ein menschliches Verhalten und der Antichrist würde seine kurze Herrschaft feiern. In der Folge würde es aber so sein, dass sich alle Sachen pervers selbst in Frage stellen würden.

Und gerade Benedikt zeigt das auch ähnlich, indem er sagt, dass ein nichtnatürliches perverses Ende kommen würde über die Menschheit, eine Apokalypse, wenn das Böse sich durchsetzt. Da die Enzyklika ein moralisches Werk ist, kann man auf jeden Fall ausschließen, dass Benedikt den Bezug auf den Antichristen und auf das Ende der Menschheit zufällig gewählt habe.