Kapitel 9

Papst Benedikt

Um auf die erste Reise zurückzukehren, welche Papst Bergoglio am 28. Juli 2013 gemacht hat, als er am Weltjugendtag in Rio de Janeiro teilgenommen hatte. Dort wurde er von Journalisten gefragt, wie das Verhältnis zu Papst Benedikt sei, nachdem es doch nie einen emeritierten Papst gegeben hätte. Vielleicht war Bergoglio nicht vorbereitet oder war — er war ja erst seit Kurzem im Amt — überrascht. Er antwortete folgendermaßen: „Ich denke, dass es beim letzten Mal, wo es zwei Päpste oder drei Päpste gegeben hatte, diese nicht viel gesprochen haben miteinander; denn alle wollten selbst der authentische Papst sein. Es waren sogar drei Päpste während des Schismas im Abendland.“

Merkwürdig, dass die Antwort von Bergoglio sich gleich auf eine Situation mit drei Päpsten bezogen hat. Und indem er sagt: „Man wusste nicht, wer der authentische Papst war“, so, als ob es auch heute nicht klar wäre. Dann während des Diskurses kommt Bergoglio zu zwei Wortwahlen, die auffallen, indem er sagt, es gäbe zwei Päpste im Vatikan, und wo er sich in Bezug auf Benedikt mit „Heiligkeit“ ausspricht.

Das war die erste Gelegenheit, wo er zu dieser Situation gesprochen hatte, während er bei den darauf folgenden Anlässen völlig anders reagierte. Da hat er dann immer von Bischöfen gesprochen, die emeritiert sind, und dass der Papst auch jenen Weg gehen würde. Perplex ist das, wenn man sich vergegenwärtigt, dass jetzt das Bischöfliche zum Vorbild für das Papsttum wird. Darüber hinaus ist der Bischof ein schlechtes Vorbild für das Papsttum, denn der Bischof kann nicht von seinem Amt zurücktreten. Das bleibt ihm für immer. Im Gegensatz dazu haben mit Papst Coelestin V. und Gregor VII. zwei Päpste, die danach nicht mehr Papst waren, bereits einen Rücktritt gemacht.

Es überrascht auch, weil man hier versucht, durch Bergoglio eine Situation zu normalisieren, die auch für Ratzinger gravierend und sicher nicht normal war. Während er aber später davon sprach, dass Benedikt hier einen neuen Weg für Päpste geöffnet habe, hat er vorher noch davon gesprochen, dass es zwei Päpste geben würde, die streiten würden, wer der wirkliche Papst sei.

In einem Artikel oder Interview im „Corriere della Sera“ sagt der Papst sogar, dass der emeritierte Papst inzwischen sogar eine Institution sei so wie der emeritierte Bischof. Aber was ist das für eine Institution? Auf welches Recht beruft sie sich? Auf jenes zivile oder auf das kirchliche? Und wer hat dieses Recht gesetzt? Ist dieser neue Papst, der emeritierte, jetzt oberhalb, unterhalb oder gleichzusetzen mit einem Kardinal? Egal, wie die Antworten sind, es eröffnen sich Probleme. Auf jeden Fall wird man die Vorgänge erst mit der Zeit verstehen. Und die Koexistenz von zwei Päpsten ist eine völlig außergewöhnliche und neue Situation.

Am 28. Juni 2014 hat der Papst hingegen bei einem Gespräch mit Jugendlichen, wie die Zeitung „Il Messaggero“ geschrieben hat, die Worte gewählt, dass der Weg eines Papstes vordefiniert ist und dass dieser Weg mit dem Tod enden würde. Das war vielleicht so wie ein Witz gesagt, aber ein Witz, der auch eine Konfession beinhaltet. Heißt das, dass sich Bergoglio einen anderen Weg gewählt hat, dass er nie zurücktreten werde? Oder heißt das andererseits, dass Benedikt für immer Papst bleibt. Übrigens hat ein großer Papst wie Innozenz III. immer davon gesprochen, dass es ein unwiderrufliches Verhältnis gebe zwischen Papsttum und Kirche von Rom, dass dieses Verhältnis auf keinen Fall aufzulösen ist außer mit dem Tod.

Wenn schon die Frage nach dem Rücktritt delikat ist, so ist es die Frage nach dem emeritierten Papst um so mehr. Und alle Kirchengelehrten scheuen sich hier, klare Antworten zu geben, mit wenigen Ausnahmen. Einer ist Valerio Gigliotti, der im Buch „La tiara deposta“ davon spricht, dass der Papst hier einen neuen Weg eingeschlagen habe und dass er hier auch das Papsttum selbst neu geprägt habe. Dieser neue emeritierte Papst sei eine andere Form, nämlich nicht mehr der Papst, der vom Vatikan aus handeln würde, sondern der zurückgezogene Papst, der in die Einsamkeit gehe, was eine neue mystische Dimension eröffnen würde. Das Buch von Gigliotti ist eher eine juristische Abhandlung als eine theologische.

Sehr intensiv und auch tiefgehend ist hingegen die Schrift von Stefano Violi, Dozent an der Fakultät für Theologie in Lugano und an der theologischen Fakultät von Emilia Romagna. Die Studie, die mit dem Titel „La rinuncia di Benedetto XVI“. also „Der Amtsverzicht von Benedikt XVI.“ bezeichnet ist und in der Zeitschrift „Rivista Teologica di Lugano“ („Theologische Zeitschrift von Lugano“) veröffentlicht wurde, enthält zum ersten Mal eine ausführliche Lektüre über diesen Rückzug und auch über die Wortwahl Benedikts: „Zwei sind die wichtigsten Fakten dieses Rückzuges: erstens, dass ein Bezug zum kanonischen Recht 123 Paragraph 2 fehlt, und zum Zweiten, dass eine andere Wortwahl gewählt wurde, die abweicht von jener von Bonifatius VIII., der vom Rückzug vom Papsttum spricht. Dort ist die Rede vom Renunciatio Muneri, während wir hier bei Benedikt vom Renunciatio Ministerio sprechen.“

Was das bedeuten soll, versteht man, wenn man die Passagen des Textes von Violi nachgeht: „Nachdem man das Primat des Verstandes aufgeworfen hat, behauptet Benedikt XVI. ‚Meine Kraft, mein fortgeschrittenes Alter sind nicht mehr geeignet, um dieses Amt auszuführen.’ Das Bewusstsein bezieht sich darauf, nicht mehr geeignet zu sein, dieses Amt auszuführen. In der Formulierung unterscheidet er aber zwischen Amt und Amtsausführung. Seine Kraft reiche nicht mehr aus, das Amt zu verwalten, aber nicht, das Amt selbst innezuhaben.“

Das alles von Violi kann als eine sehr juridische Diskussion aufgefasst werden von Spezialisten. Es ist aber etwas, was uns alle betrifft. „Benedikt spricht davon, dass er auf das Ministerium verzichtet, aber nicht auf das Papsttum.“ Hier versteht man, was „emeritierter Papst“ bedeuten soll. Violi ist klar, und wenn man das liest, dann versteht man, dass es ein kolossales Missverständnis gegeben hat, und niemand verstanden hatte, um was für eine Art „Verzicht“ es sich dabei gehandelt hat. Vielleicht war es bequemer, von Benedikt als zurückgetretenen Papst „in toto“ zu sprechen.

Aber es ist nicht so. Wegen seiner Liebe und seiner Größe gegenüber der Kirchen hat er verstanden, dass er einen Schritt zurücksetzen müsste im Sinne der Kirche selbst. Aber mit seiner großen Weisheit und seiner theologischen Finesse ist er nicht geflohen, sondern er hat sein Herz für die Kirche in andere Hände gelegt. Er bleibt aber eine Amtsperson, die im Stillen weiterwirkt. So wird auch die Erklärung von Monsignor Gänswein klar, der sagt, dass Benedikt den Titel behalten habe, weil das der Realität entsprechen würde. Im eigentlichen behauptet Violi, dass Benedikt nie auf das Papsttum verzichtet habe.

Sicher, bei der Papstwahl, die darauf folgte, war davon die Rede, dass eine nicht besetzte Stelle zu besetzen sei. Und so würde sich Violis Theorie auch irgendwo widersprechen. Es scheint so, als würde das eine das andere in Frage stellen und dass die Permanenz des Papsttums von Benedikt XVI. die darauf folgende Neuwahl entkräften und anfechten würde.

Dass keiner klar darüber sprechen will, wirft die Frage auf, ob das alles vielleicht nicht doch destabilisierend wäre. Vittorio Messori hat am 28. Mai 2014 einen Artikel geschrieben im Corriere della Sera, in welchem er den Text von Stefan Violi aufwirft mit dem Titel „Wieso wir wirklich zwei Päpste haben“, mit dem Unterschied, dass Violi in seinem Text nie von zwei Päpsten spricht, wohl, weil er weiß, dass es laut der Kirchenverfassung so etwas nicht geben kann.

So schreibt Messori, dass Benedikt zwar die Amtsführung abgegeben hat, aber dass er das Amt selbst nicht abgeben könne. Und so komme es laut Messori, dass die Kirche heute zwei Päpste habe. Wieso aber diese ganze Stille rund um diese Tatsache? Messori wusste zu genau, dass seine Fragen, die er stellte, eine dramatische Frage aufwerfen würde, nämlich die Frage: Wer ist der Papst? Er hat aber vermieden, diese Frage klar zu formulieren. Wieso? Vielleicht wollte er, dass die Kirche diese Frage aufwirft. Und diese Frage ist auch in die Tatsache geknüpft, dass, wenn Benedikt Papst geblieben ist, es bedeutet, dass Bergoglio nicht Franziskus ist.