Der stigmatisierte Pater Pio von Pietrelcina

 

Einleitung

Die berühmteste Stigmatisierte des 20. Jahrhunderts war die im Jahre 1962 verstorbene Therese Neumann von Konnersreuth. Sechs Jahre nach ihr verschied der nach dem hl. Franziskus von Assisi am bekanntesten gewordene stigmatisierte Mann, nämlich Pater Pio von Pietrelcina.

Der Beginn seines Ruhmes hängt unmittelbar mit dem Auftreten seiner Wundmale zusammen. Im Lauf der Zeit wurde die Öffentlichkeit auch mehr und mehr auf andere "paranormale" Fähigkeiten des Paters aufmerksam gemacht, wie sie fast allen Stigmatisierten nachgesagt werden, wie etwa wunderbare Sprachengabe, Fähigkeit der Bilokation und eine außergewöhnliche Herzenskenntnis. Einen breiten Raum in den Schilderungen der Biographen nehmen die Berichte ein, die den Kampf schildern, den P. Pio mit dem leibhaftigen Teufel auszufechten hatte.

Mit dem Stigmatisationsproblem hat sich bereits eine Reihe von anerkannten Fachleuten eingehend beschäftigt, wie Jean Lhermitte, René- Biot und Franz Schleyer. Es ist leider eine bekannte Tatsache, daß sich unsere sogenannte mystische Literatur darum so gut wie überhaupt nicht kümmert. Man könnte über dieses Verhalten noch hinwegsehen, aber wirklich bedenklich ist es, daß auch die verantwortlichen kirchlichen Stellen weithin glauben, auf das Urteil von Fachleuten auf naturwissenschaftlichem Gebiet großzügig verzichten zu können. In diesem Zusammenhang sei bloß auf die zwei deutschen stigmatisierten Frauenspersonen, nämlich Anna Katharina Emmerick und Therese Neumann von Konnersreuth hingewiesen.

Wie bei der "mystischen Literatur" üblich, so stößt man auch bei den Schriften über Pater Pio immer wieder auf ein Unmaß an Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit. Dies gilt vor allem hinsichtlich der "wunderbaren" Phänomene, die mit seinem Leben verknüpft werden. Daß die Verehrer des Paters seinen Seligsprechungsprozeß anstreben, ist verständlich. Es trifft zu, daß P. Pio ein sehr frommer Mann war. Trotzdem müssen wir uns die Frage stellen: Ist die Gestalt des Paters Pio von einer Art, daß sie dem gläubigen Volk als Vorbild hingestellt werden soll; ist die Einleitung eines Seligsprechungsprozeßes gerechtfertigt oder nicht? Besonderen Dank schuldet der Verfasser dieser Schrift Herrn Prof. Dr. Franz Schleyer, Bonn, und Herrn Dr. Ferdinand Stadlbauer, Bamberg, für ihre fachkundigen Hinweise und Ratschläge.

I. Lebensüberblick

Francesco Forgione, der später nach seinem Eintritt ins Kloster den Namen Pio erhielt, wurde am 25. Mai 1887 geboren. Sein Geburtshaus stand in Pietrelcina, einem in der Provinz Benevent in Süditalien gelegenen Marktflecken. Seine Eltern Orazio und Giuseppina Forgione waren Kleinbauerseheleute. Der karge landwirtschaftlich nutzbare Boden warf nicht viel Gewinn ab; darum wanderte der Vater Orazio zweimal nach Amerika aus, um zusätzlich etwas für die Familie zu verdienen. Weder der Vater noch die Mutter konnten lesen oder schreiben. Auch ihr Sohn Francesco besuchte keine Volksschule. Er war bereits zehn Jahre alt, als er erstmals Lesen und Schreiben lernte, und zwar bei einem Kleinbauern, der "ein wenig gebildet" war und für ein geringes Entgelt Kinder seiner Nachbarn am Abend unterrichtete. Ende 1898 kam Francesco zu einem anderen Lehrer, Domenico Tizzani mit Namen. Dieser verdiente sich dadurch seinen Lebensunterhalt, indem er eine kleine Gruppe von Knaben in Pietrelcina "Latein und die anderen Unterrichtsfächer" lehrte. Eines Tages erkundigte sich Francescos Mutter bei Tizzani über die wissenschaftlichen Fortschritte ihres Sohnes. Tizzani gab die Auskunft: "Er ist ein Esel; schickt ihn, die Schafe hüten!" Die Mutter des Jungen gab jedoch nicht auf; sie schickte ihn nun vom Herbst 1901 bis Ende 1903 zu einem anderen Privatlehrer, nämlich Angelo Caccavo (1)

Im übrigen verlebte Francesco Forgione seine Kindheits- und Jugendjahre in Pietrelcina wie andere Jungen auch. Wenn man P. Pio in seinem späteren Leben fragte, wie er als Junge gewesen sei, antwortete er "munter": "Un maccarone senza sale", "Makkaroni ohne Salz", was so viel bedeutet wie "eine fade Nocken" (2). So bezeichnet sich P. Pio selbst. Später wird von seinen Verehrern, wie nicht anders zu erwarten, auch die Kindheit Francescos verklärt und als das Leben eines Heiligen, wie man einen solchen zu sehen pflegt, dargestellt. Pios Onkel Orazio weiß dann zu erzählen, der kleine Francesco habe sich gewöhnlich nicht an den Spielen seiner Altersgenossen beteiligt; oder die Mutter Giuseppina berichtete, sein "Lieblingsspiel" sei es gewesen, "aus kleinen hölzernen Stäbchen die ihm gerade in die Hände fielen, kleine Zeichnungen in Kreuzesform auf den Boden zu machen" (3).

Von früher Jugend an stand für Francesco Forgione fest, daß er Mönch werden würde, und zwar "ein Franziskaner, mit einem Bart". Seine Angehörigen schlugen die Wahl eines anderen Ordens vor; aber Francesco lehnte alle Anregungen jedesmal mit der Bemerkung ab: "Die haben aber keinen Bart." Dies "schien eine fixe Idee des Knaben gewesen zu sein (4). Im November 1922, als P. Pio bald zwanzig Jahre lang dem Kapuzinerorden angehörte, schilderte er, in der ihm eigenen Sprechweise, "die ganze Mühsal der Berufung zum Kapuzinerorden" in einem Brief an eine "seiner geistigen Töchter, Nina Campanile". Er sagt, Gott habe ihm, "seinem armen und verwerflichen Geschöpf", bereits "von Geburt an Zeichen seiner besonderen Bevorzugung gegeben". "Die Stimme des liebreichen Vaters" habe ihm alle Gefahren vorgestellt, "denen er im Lebenskampf begegnet wäre". Die "Stimme des wohlwollenden Vaters" habe "das Herz des Sohnes von ... infantilen, unschuldigen Liebschaften gelöst wissen" wollen; die "Stimme des liebreichen Vaters" habe leise zum Ohr und "zum Herzen des Sohnes" gesprochen, "daß er sich völlig von der Erde, dem Moraste lösen und sich, eifersüchtig, ganz Ihm weihen solle". Gott habe ihn begreifen lassen, "daß der sichere Hafen, das Asyl des Friedens ... die Heerschar der kirchlichen Miliz sei". Der Kampf zwischen der Welt, die ihn für sich wollte, und Gott, der ihn zu neuem Leben rief, habe große Mühsal bereitet. "Mein Gott", so beteuert Pio, "wer könnte das innere Martyrium wiedergeben, das sich in mir abspielte! Allein die Erinnerung an diesen inneren Kampf, der damals in mir stattfand, ließ mir das Blut in den Adern erstarren" (5).

P. Pio gebrauchte gerne eine dramatische Sprechweise; aber ganz so erdrückend war wohl die "Mühsal seiner Berufung" in Wirklichkeit nicht. Im Alter von 15 1/2 Jahren wurde Francesco Forgione am 6.März 1903 als Novize im Kapuzinerkloster von Morcone aufgenommen, wo er den Namen Fra Pio erhielt. Seine weiteren Studienjahre verbrachte er dann in verschiedenen Kapuzinerklöstern. Bald nach seinem Eintritt ins Kloster begann er zu kränkeln. "Im Kloster zeigten sich merkwürdige Anfechtungen des Bösen, aber auch plötzliche Krankheiten mit hohem Fieber, und ebenso plötzliche Genesungen." Wiederholt und für längere Zeit schickten ihn seine Ordensoberen in seine Heimat Pietrelcina zurück, wo er sich immer wieder "erfing". Den Unterricht in den verschiedenen Klöstern erteilten Kapuzinerpatres. Im Jahr nach der Noviziatszeit, als Francesco vor allem "lateinische und griechische Übungen" zu machen hatte, litt er sechs Monate lang "furchtbar an Verstopfung"; dazu quälten ihn oftmals heftige Kopfschmerzen, so daß er kaum zu studieren fähig war. Im Jahre 1905 kam er nach San Marco da Catola "wo er sein Philosophiestudium begann 6) . Diesem schloß sich 1907 das Theologiestudium an. Aber er verbrachte die Zeit von 1906 bis Mitte 1910, nur mit ganz kurzen Unterbrechungen, fast andauernd bloß in seiner Heimat Pietrelcina, wo er sich privat weiterbildete (7)

Am 10. August 1910 empfing Pio im Dom zu Benevent die Priesterweihe. Auch in den folgenden Jahren verbrachte der junge Pater seiner Kränklichkeit wegen lange Zeit in seiner Heimat, wo er sich auf elterlichem Grund eine Strohhütte baute, in der er die Zeit mit Beten und Studieren zubrachte. Sein Beichtvater war in den ersten Priesterjahren der Heimatpfarrer, Erzpriester Don Salvatore, dem er "unbedingten Gehorsam erwies".

Im Jahr 1916 kam P. Pio nach San Giovanni Rotondo, seiner endgültigen klösterlichen Station. Während des Ersten Weltkrieges wurde er zum Militärdienst eingezogen, trug aber nur für kurze Zeit die Soldatenuniform, da er krankheitshalber immer wieder für längere Zeit beurlaubt wurde. 52 Jahre lang gehörte er dem Konvent in San Giovanni Rotondo an; dort verstarb er im 82. Lebensjahr am 23. September 1968 um 2.30 Uhr

II. Gesundheitszustand

1. Kränklichkeit

P. Pio war an sich kein kranker Mann, aber er war fast andauernd kränkelnd. Bei diesen Gesundheitsstörungen handelte es sich zumeist nicht um organische Leiden, sondern um solche psychischen Ursprungs, Immer wieder, so heißt es, standen die Ärzte vor "Rätseln". Daß es sich um keine organischen Erkrankungen handelte, zeigt sich vor allem in den Fällen, wo P Pio ganz plötzlich gesund wurde, wie wen, ihm vorher nicht das mindeste gefehlt hätte. Hier stehen wir vor einer Erscheinung die in der Regel allen Stigmatisierten eigen ist, daß sie nämlich während ihres ganzen Lebens immer wieder über heftige Schmerzen verschiedenster Art klagen. "Diese Schmerzen, die aus dem Bild der Stigmatisierten nicht wegzudenken sind, haben indes keine organische Ursache"; sie werden von den Medizinern als "psychogen" bezeichnet. "Rätselhafte Krankheiten, das heißt Leiden ohne organische Ursache, und ihr plötzliches Verschwinden, sind typisch für die Stigmatisierten" (9) Bevor Francesco Forgione Aufnahme im Kloster fand, bestanden solche Krankheiten nicht. Sie fingen aber bald nach Beginn des Noviziates an, setzten sich während seiner Studienjahre fort und dauerten mit Unterbrechungen bis zu seinem Lebensende. Während der Studienzeit zog sich seine seltsame Krankheit so lange hin, daß die Ordensoberen beschlossen, ihn in seine Heimat Pietrelcina zurückzuschicken, damit er sich erhole (10)

Als es einmal ganz schlimm wurde, rief man seinen Onkel Orazio, der den Kranken in seine Heimat zurückbringen sollte. Man erklärte dem Onkel: "Seit vierzehn Tagen ißt er nichts mehr, und es tut uns leid, weil wir daran zweifeln, ob er sich jemals wieder auf seine Füße stellen kann." Orazio wurde auch darauf aufmerksam gemacht, daß der Patient "schwindsüchtig" sei. Der Onkel begleitete also seinen kranken Neffen zurück in die Heimat mit dem Bemerken: "Wenn er schon sterben muß, dann soll er zu Hause sterben." So schlimm stand es also um Fra Pio. Er war derart geschwächt, "daß er zweier Personen bedurfte, um ihn anzuziehen und ihm beim Gehen behilflich zu sein". Orazio befürchtete allen Ernstes, daß der Schwerkranke unterwegs sterben werde. Aber bereits mit dem Verlassen des Klosters setzte die Genesung ein und mit jedem Schritt der Heimat zu schwand die Krankheit und besserte sich das Befinden. Bei der ersten Ruhepause, die eingelegt wurde, fragte der Onkel seinen Neffen: "Fra Pio, wie fühlst du dich?" Dieser antwortete: "Es geht mir schon besser." So erreichten beide Pietrelcina. Orazio fragte.- "Fra Pio, willst du etwas zu trinken?" Der Gefragte wehrt ab und erklärt: "Nein, nein, wir wollen weitergehen." Sie kommen an einem Kaffeehaus vorbei. Die Inhaberin fragt Fra Pio, wie es ihm gehe. Die Antwort lautet: "Es geht mir gut." Weiter geht die Fahrt mit einem Wagen; so gelangen beide schließlich zum Elternhaus des Kranken. Aber schon interessiert sich Fra Pio, der wochenlang nichts hatte essen können, für das, was es zu speisen gibt. "Mutter", so fragt er, "was machst du zum Abendessen?" "Ich mache Rüben", lautet die Antwort. Fra Pio hat nun auf einmal einen so ausgezeichneten Appetit, daß er seine Mutter auffordert: "So mache heute abend ein Essen für den ganzen Tag; es sind schon vierzehn Tage, daß ich nichts esse." Und wirklich, "bei Tisch aß er alle drei Portionen zusammen; sie sind mit Öl schmackhaft zubereitet". Nach Beendigung der Mahlzeit erklärte er: "Heute habe ich die vierzehn Tage wieder eingeholt." Das Wunder war perfekt; "schon war er geheilt" Diese Szene ist bezeichnend. Es kann einfach nicht übersehen werden, um weiche Art von Krankheit es sich gehandelt hat. Außerdem dürfte die Behauptung, Pio habe vierzehn Tage hindurch überhaupt nichts gegessen, eine der gewohnten Übertreibungen sein.

Die mehrtägige Nahrungsverweigerung und der scheinbare Verlust jeglichen Hungergefühls wurden von der Umgebung Pios als geheimnisvolle Krankheit angesehen. Die Anorexie, das heißt der Verlust des Hungergefühls und die damit verbundene Nahrungsverweigerung stellen die Antwort eines introvertierten oder psychopathischen Menschen auf eine Konfliktsituation dar. Auffallend ist, daß die Rückkehr in die Heimat schlagartig die Situation ändert. Vielleicht war die Anorexie eine Folge davon, daß den jungen Frater die neue klösterliche Umgebung und das Bestreben, allen Anforderungen gerecht zu werden, in eine seelische Krisis brachten. Das einfachste und einzig sachgemäße Behandlungsprinzip wäre die Nichtbeachtung der verweigerten Nahrungsaufnahme gewesen.

Fra Pio kommt also geheilt in seiner Heimat an, in der er erst Erholung hätte suchen sollen. Die Gesundheit dauert freilich nur eine Weile an. Ernstlich krank wird aber Pio erst wieder, als er ins Kloster zurückgekehrt war. Im Jahre 1910 wird er zum Priester geweiht. Sein schwacher Gesundheitszustand setzt sich weiter fort; ja man kann, vor allem für die Zeit von 1910 bis 1918, von einem Dauerkrankheitszustand sprechen. Für die Jahre zwischen 1909 und 1916 sagt Rippobottoni: "P. Pio befindet sich immer in einem Dauerzustand von Krankheit, deren Ursache niemand festzustellen gelingt. Sie bleibt unerkannt für alle: für Ärzte, für die geistlichen Oberen und selbst für den Kranken" (12)

"Der andauernde und fruchtlose Kampf gegen die geheimnisvolle Krankheit die P. Pios Organismus peinigte", veranlaßte die Ordensoberen immer wieder, ihn an andere Orte zu versetzen; so kommt er nacheinander nach Pietrelcina, Pianisi, Morcone, Venafro, Serra Caprida und Monte Fusco (13). Eine wesentliche Besserung von Dauer trat jedoch nirgends ein, so daß sich die Ordensoberen regelmäßig gezwungen sahen, P. Pio in seine Heimat zurückzuschicken. Von den mannigfaltigen Krankheiten, die P. Pio quälten, werden für die Zeit bis etwa 1918 unter anderen aufgezählt: Oftmaliges hohes Fieber und im Gefolge davon ein unmäßiger Schweißausbruch; Schmerzen auf der Brust, die oft so heftig sind, daß P. Pio "zu keiner Handlung fähig ist", ja daß "Reden und Atmung behindert" werden; ein schwerer, schrecklicher Husten, der ihn andauernd quält, meist aber nachts; es hätte nicht viel gefehlt, so schreibt er selber, daß es ihm "die Brust zerrissen hätte"; dazu unerträgliche Kopfschmerzen; quälende Magenverstimmungen mit Erbrechen; der Magen "behält oft kaum mehr gewöhnliches Wasser". Oft fühlt Pio "am ganzen Körper rheumatische Beschwerden, die so stark sind, daß er sich nur mühsam zum Altar schleppen kann". Vom Dezember 1911 bis zum März 1912 verringert sich die Sehkraft der Augen; P. Pio tut sich schwer beim Lesen und Schreiben. Darum wird ihm gestattet, täglich bei der Meßfeier das Formular von der Mutter Gottes zu nehmen und an Stelle des Breviers einen Rosenkranz zu beten (14). "Sein Gesundheitszustand, der nie blühend war, verschlechterte sich mit den Jahren. Pathologische Symptome, die etwas Geheimnisvolles an sich hatten, machten es Ärzten und Spezialisten unmöglich, eine überzeugende Diagnose zu stellen und eine wirksame Therapie einzuschlagen" (15). P. Pio nahm zwar in Gehorsam die ihm verordnete Medizin ein, aber sie blieb ohne positive Wirkung. Am 25. Juni 1911 schrieb er, die Medikamente hätten nicht mehr geholfen, "wie wenn er sie in einen Brunnen geworfen hätte" (16). Im Oktober 1911 wird der Arzt Prof. Dr. Dardarelli von Neapel zu Rate gezogen; er sieht sich zu der Erklärung gezwungen, er sei "vollkommen überzeugt", daß P. Pios Krankheit "eine besondere Zulassung Gottes sei und daß man des (17) wegen keine Ärzte benötige" . Da sich Pios Krankheitszustand in der Folge so sehr verschlimmerte, daß man eine "unmittelbare Katastrophe" befürchten mußte, wurde der Kranke am 7. Dezember nach Pietrelcina gebracht. Der Schwerkranke kommt in die Heimat, und schon wiederholt sich das Wunder; er wird urplötzlich gesund. Am Tag nach seiner Ankunft "singt er zur großen Verwunderung aller in der Pfarrkirche die hl. Messe, wie wenn er vorher nichts hätte leiden müssen"(18). Solch jäher Wechsel von schwerer Krankheit zu voller Gesundheit Überraschte immer wieder die Umgebung des Paters; "sein Aussehen ist blühend und strotzend von Gesundheit, bald bleich, ausgemergelt und leidend"(19)

P. Pio betont oftmals seine große Sehnsucht nach dem Kloster, sobald er gezwungen war, gesundheitshalber in seiner Heimat Pietrelcina zu weilen. So schrieb er einmal an P. Benedetto: "Das größte Opfer, das ich dem Herrn gebracht habe, war, wie gesagt, das, nicht im Kloster leben zu können." Einige Monate später versicherte er: "Ich überlasse es Euch, Euch auszumalen, weichen Kummer ich darüber empfinde, fern von Euch und den Gefährten zu seine" (20). Aber dieser große Kummer schadete seiner Gesundheit nicht; er erkrankte aber immer wieder, wenn er ins Kloster zurückkehrte, ganz gleich, um welches Kloster es sich handelte. Abermals beobachten wir das gleiche nämlich die plötzliche Gesundung des leidenden Paters, sobald er in die Umgebung seines Elternhauses zurückkehrt. Die moderne Psychologie hat bei Kindern und auch bei Erwachsenen die bisweilen negative Wirkung einer langjährigen Heimunterbringung, einer Internierung oder Kriegsgefangenschaft ausführlich beschrieben. Das Fehlen der gewohnten Fürsorge, der Geborgenheit in Familie und Heimat können zu Kontakt- und Gemütsstörungen führen. Der Gedanke, daß es sich bei P. Pio um auf ähnliche Weise verursachte Gesundheitsstörungen gehandelt hat, drängt sich auf.

Von 1909 bis zum Februar 1916 weilte P. Pio, mit Ausnahme einiger kurzer Unterbrechungen, in seiner Heimat Pietrelcina. Als "äußerer, scheinbarer Grund seines Verweilens in Pietrelcina" wird gewöhnlich seine "unbeständige Gesundheit" angegeben. In Wirklichkeit müssen aber andere Dinge eine wesentliche Rolle gespielt haben. Der "geheime Grund", so wird gesagt, sei nicht bekannt geworden. P. Pio selber "hat ihn nicht aufdecken wollen". "Ich wäre lieblos", so drückte er sich aus, "wenn ich es sagen würde" (21). Einerseits wird behauptet, der wahre Grund sei "Dicht bekannt", andererseits wird auch versichert, es sei "bekannt", daß der Pater aus einem "mysteriösen Grund" gezwungen gewesen sei, von 1909 bis 1916 fast ununterbrochen in Pietrelcina zu leben (22). Was kann das für ein mysteriöser Grund gewesen sein, den P. Pio nicht aufdecken wollte? Offenbar haben die Ordensoberen ernsthaft den Gedanken erwogen, P. Pio wieder in den Laienstand zurückversetzen zu lassen. Dies verrät der Pater selber während einer seiner "Ekstasen", wobei er laut spricht, so daß P. Agostino die Worte klar verstehen konnte. Unter anderem beklagte sich Pio "bei Jesus und dem heiligen Franziskus, daß die Oberen ... die Absicht haben, die Laisierung für ihn zu erbitten" (23). Da nach dem Zeugnis seiner Mitbrüder nicht die "unbeständige Gesundheit des Paters" schuld war, sondern ein "geheimer, mysteriöser Grund", muß man annehmen, daß sich die Ordensoberen an anderen Dingen gestoßen haben.

Anfang Juni 1914 wurde Pio nach Morcone geschickt. In den ersten fünf Tagen befand er sich in einer "ganz erträglichen Verfassung". Aber dann stellte sich ein um so heftigerer Rückfall ein. Am 18. Juni 1914 schrieb er an P. Benedetto: "Dieser neue Rückfall, mein lieber Vater, hat mich völlig verwirrt und am schlechtesten steht es um die Brust. Sie läßt mich fortwährend Qualen ausstehen; mich hat ein verlängerter Todeskampf erfaßt. In bestimmten Momenten ist die Qual von einer Art, daß mir scheint, wie wenn das Leben zum Stillstand kommt" (24)

Zu den schlimmsten Jahren im Leben Pios gehört die Zeit des Ersten Weltkrieges. Am 24. Januar 1915 sagt P. Pio: "Ich kann in diesem Zustand nicht mehr leben und nur, ein Wunder vermag mich noch am Leben zu erhalten, so wie es leider ein Wunder ist, daß ich noch am Leben bin" (25). Trotz des schlechten Gesundheitszustandes wurde P. Pio im November 1915 zum Militärdienst einberufen. Am 18. November 1915 schrieb er aus dem Hospital in Caserta: "Der grausame medizinische Hauptmann von Benevent untersuchte mich und stieß bei mir auf die so sehr gefürchtete Krankheit, welche man etwa als Schwindsucht bezeichnet, und gerade deswegen stellte er mich unter Beobachtung, indem er mich hier einwies." Im Hospital von Caserta gestaltete sich die Untersuchung durch den zuständigen Arzt "zu einer reinen Formalität"; am 6. Dezember wurde Pio in Neapel mehreren Ärzten vorgestellt (26).

Ein paar Tage darauf, am 12. Dezember, schrieb P. Pio von Neapel aus: "Vom ersten Tag an war ich gezwungen, diesen Vorgesetzten gegenüber den heftigsten Wunsch zu äußern, mich zu untersuchen, weil ich mich sehr schlecht fühlte. Gott allein weiß, was ich leiden muß; ich weiß nicht, ob ich diese überaus harte Prüfung überstehen werde. Ich kann mich nicht mehr auf den Füßen halten; der Magen wird, wie gewohnt, andauernd hartnäckiger und behält keinerlei Speise" (27)

Bereits fünf Tage später wurde P. Pio auf ein Jahr beurlaubt. Als Grund wird angegeben "Lungeninfiltration" (infiltrazione ai polmoni) (28). Als sich die Ordensoberen überlegten, "ob es in Anbetracht von Pater Pios vermutlicher Lungenkrankheit, die den jungen Knaben des Seminars schaden könnte, angebracht sei, ihn fest nach San Giovanni zu nehmen", da beteuerte P. Pio, daß "die Krankheit nicht für die anderen sei", das heißt, daß keine Lungentuberkulose vorliege (29). Nach Ablauf des einjährigen Urlaubs traf P. Pio am 18. Dezember 1916 wieder im Hospital in Neapel ein. Aber bereits am 2. Januar 1917 wurde ihm nochmals ein halbes Jahr Genesungsurlaub gewährt. Diesmal lautete die Begründung: "Lungeninfiltration an beiden Lungenspitzen und ausgedehnter chronischer Bronchialkatarrh" (30).

Mit einer Verspätung von fast zwei Monaten über den gewährten Urlaub hinaus kehrte P. Pio am 19. August 1917 nach Neapel zurück. Bereits am Tag darauf wurde er wegen "Infiltration der Lungenspitzen" im Hospital den Ärzten vorgestellt. Am 4. September erklärte ein medizinischer Oberst "nach einem einfachen Blick, ohne eine andere Beobachtung": "tauglich für den inneren Dienst". P. Pio war zutiefst erschüttert, daß man ihm so etwas antun konnte. Darüber äußert er sich in einem Brief: "Mein ganzer Leib ist krank, diffuser Bronchialkatarrh, abgemagert bis zu einem Skelett, dürftige Ernährung und all das andere. Mein Gott! Welche Ungerechtigkeiten, die man auf sich lädt." Einen Monat später klagt er: "Der Magen lehnt immer hartnäckiger jegliche Speise ab; an manchen Tagen kommt es auch zu Bluthusten" (31)

In dieser Zeit soll ein Arzt angesichts von zwölf kranken Soldaten zu P. Pio gesagt haben: "Und Sie, was sind Sie: gesund oder krank? Sind Sie nicht der kränkste von allen?" Ein anderer Arzt soll sich in den Kopf gesetzt haben, Pio zu heilen. Zu diesem Zweck ließ er ihm besonders schmackhafte Bissen zukommen, vor allem gelegentlich ein "Stückchen Huhn". Aber was tat Pio? Er versteckte die Delikatessen in seinem Schränkchen. Wenn dann seien Kapuzinerbrüder zu Besuch kamen, wie Ferdinando da San Marco, Isaia da Sarno und Angelico da Sarno, setzte er sie diesen vor, weiche "alles hinwegputzten" (32)

Pios Beschäftigung im Sanitätsdienst dauerte im Jahr 1917 nur kurze Zeit; anfangs November erhielt er vier Monate Genesungsurlaub. Auch im Jahr 1918 trug er nur für kurze Zeit die Uniform. Mitte März wurde zwar ein doppelseitiger Bronchialkatarrh festgestellt, aber es wurde auch ausdrücklich betont, daß es Sich nicht um Tuberkulose handle. Darum verzichtete man auf eine Durchleuchtung. Eine später vorgenommene Durchleuchtung bestätigte, daß keine Tuberkulose vorhanden war (33). Dabei mag dahingestellt bleiben, ob P. Pio nicht doch an einem Lungeninfiltrat tuberkulöser Art erkrankt war, das dann allmählich ausheilte. So läßt sich jedenfalls für den Zeitraum von 1916 bis 1918 eine Reihe seiner Krankheitserscheinungen als allgemeines Symptom seines spezifischen Lungenleidens am besten erklären.

Am 16. März 1918 wurde P. Pio endgültig aus dem Militärdienst entlassen, und wiederum zeigte sich das bereits bekannte "Wunder"; "nur wenige Monate später" war der "Bronchialkatarrh" spurlos verschwunden (34). Das heißt natürlich nicht, daß P. Pio nunmehr gesund war. Die Kränklichkeit ging weiter; nur die Krankheitsformen wechselten.

In einer Art Attest vom 15. November 1919 wird zwar festgestellt, P. Pio ''könne sich nicht erinnern, je irgendeine Krankheit gehabt zu haben hinsichtlich des Nervensystems, wie Krampfzustände, Ohnmacht, Lähmungen, auch nicht bloß vorübergehend"; auch habe er nicht unter "Erregungszuständen" oder "psychischen Depressionen" gelitten (35); aber wir wissen, daß der Pater doch zum mindesten sehr häufig von Depressionszuständen gequält wurde. Außerdem soll er ja in den Jahren 1917 und 1918, "wenigstens in Venafro", regelmäßig zwei - bis dreimal am Tag von Bewußtlosigkeit begleitete Anfälle (stasi) gehabt haben; diese Zustände, die "jedesmal eine Zeitspanne von einer bis zu zweieinhalb Stunden dauerten", soll der Arzt als kataleptische Anfälle (calessi) angesehen haben (36).

Wir haben uns bisher mit den Krankheiten beschäftigt, unter denen P. Pio in den Jahren vor dem Stigmenempfang zu leiden hatte. Offenbar besserte sich bei ihm im Laufe der Jahre sein Gesundheitszustand wesentlich. Er wurde erst wieder im Jahre 1959 für längere Zeit krank, als er bereits 72 Jahre alt war. Damals dauerte sein Krankheitszustand vom 25. April bis zum 7. August. Am 2. Juni haben ihn zwei und am 30. Juni vier medizinische Professoren untersucht; ihre Kunst versagte jedoch bei P. Pio; aber am 7. August wurde er plötzlich geheilt (37)

Hier wie vor allem bei den andauernden gesundheitlichen Störungen vor dem Stigmenempfang handelt es sich offensichtlich nicht um organisch bedingte Leiden, sondern ihr Ursprung liegt in der Psyche. Wenn es heißt, die Ärzte seien immer wieder vor "Rätseln" gestanden, so wird damit nur zum Ausdruck gebracht, daß sie keine organische Ursache für die eigenartigen Krankheitssymptome erkennen konnten. Die "Rätselhaftigkeit" der Leiden wird ergänzt, aber auch erklärt durch die plötzliche Gesundung des angeblich schwerkranken P. Pio.

Psychopathologische Züge sind bei P. Pio nicht zu übersehen. Wir haben keinen Grund, auch gar nicht das Recht, bei ihm andere Beurteilungsnormen anzuwenden, als wir sie sonst bei jedem beliebigen Menschen gebrauchen. Die Krankheitsbilder allein schon und erst recht alles Drum und Dran lassen einen Blick vorauswerfen auf die Frage der Stigmatisation. Jetzt bereits muß das Urteil gefällt werden: Es handelt sich um typische Krankheitsbilder, wie man sie bei den gleichsam für die Stigmatisation Prädestinierten regelmäßig vorfindet.

2. Fieber

Auf ein ganz eigenartiges Phänomen stoßen wir gelegentlich bei P. Pio während seiner Krankheiten, aber auch offenbar zuweilen ganz unabhängig von ihnen, nämlich auf eine derart hohe Körpertemperatur, wie sie kein Mensch lebend überstehen kann. Pio hatte bereits in der ersten Zeit seines Klosteraufenthaltes des Öfteren plötzlich Anfälle höchsten Fiebers, das aber nicht gemessen werden konnte, weil jeder Versuch daran scheiterte, daß die Fieberthermometer zersprangen. Da kam der Pater Krankenpfleger auf den Gedanken, sich des Badethermometers zu bedienen. Zu seiner höchsten Bestürzung stieg das Thermometer bis auf 48 Grad (38).

Während des Ersten Weltkrieges verbrachte P. Pio einige Zeit im Militärlazarett von Neapel. Wiederholt versuchte man, des Paters Fieber zu messen; es gelang nicht, weil jedesmal das Thermometer zersprang (39). Pio selber machte in Neapel seine Krankenwärter darauf aufmerksam: "Gebt mir nicht das Thermometer; denn es zerspringt und ihr werdet es bezahlen, nicht ich" (40)

Als sich P. Pio nach seinem Abschied aus dem Militärdienst einige Zeit in Foggia aufhielt, versuchte man, sein Fieber zu messen. Es gelang aber ebensowenig wie vorher im Hospital von Neapel. Ein Arzt versuchte es nun mit einem Badethermometer; in kürzester Frist stieg die Skala auf 48 Grad Celsius. Das gleiche Phänomen stellte dann der Superior im Kloster von San Giovanni Rotondo fest. Hier stand Pio eine Zeitlang unter der Betreuung des Arztes Dr. Festa. Dieser fand jedoch regelmäßig eine normale Temperatur, nämlich zwischen 36,2 am Morgen und 36,5 am Abend. Beim Abschied übergab Dr. Festa sein Fieberthermometer dem Superior des Klosters mit dem Auftrag, dieser solle künftig das Fieber messen. Der Superior konnte "in zahlreichen Fällen" eine Temperatur von 48 und 48,5 Grad nachweisen.

Vor allem die Ärzte, so heißt es, standen immer wieder vor unlösbaren Rätseln; denn P. Pio litt ja nicht an einer Krankheit, in deren Gefolge sich hohes Fieber einzustellen pflegt; außerdem ist bekanntlich bereits ein Fieber von 41 Grad für einen erwachsenen Menschen lebensgefährlich. Dr. Festa gibt an, die außergewöhnlich hohe Körpertemperatur habe sich in der Regel gezeigt, wenn Pio "sehr leidend" war oder "etwas unruhig in seinem Bett" lag, "aber ohne Delirium und ohne die gewöhnlichen Störungen, welche die bemerkenswerten Veränderungen zu begleiten pflegen". Nach einem Tag oder nach zwei Tagen sei dann wieder der normale Zustand eingetreten. Am dritten Tag habe Pio, wie gewohnt, Beichten gehört. Weiter schreibt Dr. Festa in seinem 1949 in der zweiten Auflage herausgegebenen Buch, "seit einiger Zeit" habe sich das "Phänomen", das "Thermometerfieber", nicht mehr gezeigt (41). Die hohe Körpertemperatur war also bei P. Pio nicht die Folge einer schweren fiebrigen Erkrankung. Von 1929 an waren vorgesetzte kirchliche Behörden ernsthaft bemüht, den Pater aus San Giovanni Rotondo zu entfernen. Die Verordnungen, die dem Pater jegliche Tätigkeit in der Öffentlichkeit untersagten, setzten ihm "physisch und moralisch" sehr zu. Die damit verbundenen Aufregungen hatten zur Folge, daß P. Pio "rheumatisches Fieber" bekam; er selber stellte mit einem Badethermometer 44 und auch 46 Grad Celsius fest. "In ähnlichen Fieberattacken brannte er wie Feuer". In diesen Jahren bis 1933 war für den Pater namentlich jeweils die Karwoche sehr beschwerlich. In dieser Woche erlebte er als Kranker, der ans Bett gefesselt war, das Leiden des Herrn; dabei stieg das Thermometer bis 48 Grad an. Auch im November und Dezember 1935 fühlte sich P. Pio nicht recht gesund. Einige Tage mußte er das Bett hüten; wiederum wurden 48 Grad Fiebertemperatur gemessen (42) .

Das genannte "Phänomen" läßt eine Reihe von Fragen aufkommen. Hyperthermie, das heißt eine über der Norm liegende Körpertemperatur, kann verschiedene Ursachen haben. Sie wird gelegentlich bei vegetativ Stigmatisierten und bei der Katatonie beobachtet. Das Auftreten einer periodischen Hyperthermie erscheint bei P. Pio durchaus glaubhaft. Die Behauptung hingegen, daß seine Fieberschübe 48,5 Grad erreicht hätten, muß man in den Bereich der Fabeln verweisen. Wäre diese "Fieberhitze" objektiv echt, dann müßte es sich um ein doppeltes Wunder handeln. Es müßte als Wunder bezeichnet werden, daß überhaupt solch enorm hohe Körpertemperaturen entstehen, noch dazu ohne eine entsprechende Krankheit; weiterhin müßte man auf ein echtes Wunder erkennen, wenn ein Mensch solche Temperaturen übersteht, und zwar immer wieder übersteht. Man muß aber ernsthaft fragen: Aus welchem Grunde sollte Gott ein solches Wunder wirken? Bloß aus launischer Spielerei heraus? So naiv wird niemand urteilen wollen. Nicht weniger naiv klingt hier das Argument, Gottes Allmacht könne man keine Grenzen setzen.

Wie kam dann aber diese hohe Körpertemperatur ohne ein Wunder zustande? Es fällt einmal auf, daß in der zur Verfügung stehenden Literatur kein Arzt namentlich genannt wird, der selber die hohe Temperatur nachgewiesen hat. Während des Ersten Weltkrieges wurde P. Pio wiederholt vom Militärdienst zurückgestellt; als Begründung wurde angegeben: "Lungeninfiltration" bzw. "Bronchialkatarrh". Von einer enormen Fieberhitze ist nie die Rede. Falls irgendein Arzt im Militärlazarett beim Pater die angebliche Körpertemperatur festgestellt hätte, wäre er ganz gewiß der Sache nachgegangen. Der Arzt Dr. Festa wurde zwar auf das Fieber aufmerksam gemacht; aber er selber fand bei jeder Kontrolle ausnahmslos normale Temperatur vor, während später der Klostersuperior in zahlreichen Fällen mit dem vom Arzt zurückgelassenen Thermometer bis 48,5 Grad Celsius gemessen haben soll.

Wenn ein Mensch Körpertemperaturen in der behaupteten Höhe nicht lebend Überstehen kann, wenn man den Gedanken an ein Wunder ausschließen muß, dann bleibt als Schlußfolgerung bloß der Verdacht auf irgendwelche Manipulation übrig. Mit dem Argument, bei einem Mann wie P. Pio sei so etwas ausgeschlossen, schafft man den Verdacht nicht aus der Welt. Der Beweis für derart außerordentliche Dinge müßte in einer Weise geführt werden, daß selbst die geringste Spur eines Zweifels ausgeschlossen bleibt. Solch ein Beweis liegt nicht vor.

3. Depressionen

Eine der Leidensquellen war für P. Pio seine eigene Veranlagung, die zu Depressionen neigte. Einmal wurde er von P. Agostino gefragt, seit wann er vom "Martyrium der Skrupeln" geplagt werde. Pio antwortete, dies habe mit 18 Jahren begonnen und bis zum Ende des 21. Lebensjahres gedauert. In den ersten zwei Jahren sei der Zustand "fast unerträglich" gewesen (43). Als dies P. Pio niederschrieb, war er noch ein junger Mann. Er hat auch in späterer Zeit, vor allem im Alter, viel unter Depressionszuständen gelitten.

Wir erinnern uns aber, daß P. Pio am 15. Dezember 1919 ganz anders ausgesagt hat. Damals hat er versichert, er könne

sich nicht erinnern, jemals unter "Erregungszuständen" oder psychischen Depressionen" gelitten zu haben (44). Der Widerspruch zwischen beiden Beteuerungen ist offenkundig.

Offenbar war P. Pio stark sensibel veranlagt, was sich auch in seinem Gebetsleben zeigte. Bereits in seiner Novizenzeit kreiste seine Meditation "immer um den Gekreuzigten". Dabei weinte er dann so sehr, daß die Tränen auf den Fußboden herniedertropften. "Die Gabe der Tränen war so etwas Gewohntes, daß er sich ein Augenleiden zuzog." Er begründete sein oftmaliges Weinen mit den Worten: "Ich beweine meine und aller Menschen Sünden" (45)

Er selber fühlte sich als den größten Sünder. Dieser Gedanke kehrt oftmals in seinen Briefen wieder, wo er sich als "größten Sünder" bezeichnet. Er klagt sich an als "elenden Menschen", der die Zeit damit vergeudet habe, "Gott zu beleidigen" und Jesus durch sein "schlechtes Leben Seelen zu entreißen". Von sich selber sagt er: "Ich bin schlimmer als Luzifer,... meine Unreinheit ist so groß, daß sich nichts mit ihr vergleichen läßt; ich bin so ungestaltet, daß meine Kleider selber Abscheu vor meinem Schmutz haben " (46) . In diesem Punkt wie beispielsweise auch beim Thema körperliche oder seelische Schmerzen und teuflische Nachstellungen, bei ihm ist alles unerträglich, entsetzlich und fürchterlich. In den Lebensbeschreibungen von heiligen Menschen stößt man nicht selten auf vorübergehende Perioden, die von einer gewissen Schwermut geprägt sind, vor allem von dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit. Im Vergleich hierzu lesen sich die Ausdrücke, die P. Pio gebraucht, wie Zitate aus der Krankengeschichte eines depressiv veranlagten Menschen. Da vermißt man die spezifisch christliche Grundstimmung, die nicht bloß aus der frohen Botschaft Christi lebt, sondern diese auch nach außen ausstrahlt.

P. Pio war ein sehr sensibler Mensch. Das zeigte sich beispielsweise auch, als am 7. Oktober 1946 sein Vater verstarb. Von da an bis zum 14. Oktober war er krank; er las bloß die hl. Messe und begab sich hernach ins Bett, "weil er entkräftet war" (47)

"In den letzten Lebensjahren litt er sehr viel; gegen 1965 war er niedergeschlagen; er sprach nichts oder kaum während der Zeit der Rekreation. Bevor er sich zum Beichthören begab, schrieb er mit einem Finger auf einen kleinen Tisch: 'In dubiis libertas', 'in Zweifelsfällen besteht Freiheit'" (48) Was er dabei im Auge hatte, wissen wir nicht.

P. Pio litt zeitlebens an seinem "von Angstzuständen geplagten Gewissen" (49). P. Carmelo da San Giovanni Rotondo in Galdo war von 1964 bis 1969 Guardian im Kloster, also in den letzten Lebensjahren des Paters Pio. Er schildert an Hand einiger Beispiele, wie schwer der Pater bisweilen von Skrupeln geplagt wurde. "Viele Male" wurde ihm sogar die Feier der hl. Messe "problematisch". Nachts konnte er nicht schlafen; er rief dann seinen zu Hilfsdiensten abgeordneten Mitbruder zu sich ans Bett und offenbarte ihm seine "Unschlüssigkeit und Unsicherheit". Dieser Pater mußte ihm "oftmals" wiederholen, daß ihm die Ordensoberen erlaubt hatten, statt des Breviers einen Rosenkranz zu beten. Dies war P. Pio am 20. Dezember 1962 gestattet worden, weil die Sehkraft seiner Augen nachgelassen hatte. Manchmal weckte der Mitbruder des Nachts auch den Guardian, damit dieser in seiner Eigenschaft als Vorgesetzter den von Angst Erfüllten beruhige.

"In den letzten Zeiten" litt der Pater auch an Zweifeln und Angst hinsichtlich der Meßfeier. Eines Tages, es war ein paar Monate vor seinem Tod, rief er den Guardian um 13.30 Uhr auf seine Zelle. Dort drängte er ihm 130 000 Lire als Stipendium für 130 Messen auf, weil er glaubte, er habe sie "schlecht gelesen" (50). "Gerade in den letzten Zeiten fühlte sich P. Pio wie ein Kind, das die Beute der Furcht ist." Er verlangte, daß sein ihm zugeordneter Pater immer an seiner Seite blieb, insbesondere während der Nacht- "Er sprach sehr wenig, wollte keinen Fremden sehen, und zog es vor, fast immer allein zu sein, mit seinem Rosenkranz in der Hand."

Während er früher, um Rat gefragt, "klar und bestimmt seine Weisungen erteilte, war er zuletzt "sehr zurückhaltend, beinahe unentschieden und unsicher"; er beschränkte sich darauf, den Leuten sein Gebet zu versprechen. "Deutliche Anzeichen einer inneren Qual wurden offenbar, die ihm entsetzliche Leiden verursachten, so daß er schließlich wiederholt den Tod herbeisehnte." Wenn man ihn fragte, wie er sich fühle, gab er zur Antwort: "Schlecht, schlecht, mein Sohn; nur das Grab bleibt mir übrig; ich befinde mich mehr dort wie hier. Bittet den Herrn daß er mich sterben läßt" (51).

Früher einmal hatte P. Pio seinen Mitbruder P. Agostino da San Marco in Lamis als "dieser Alte" bezeichnet. Später, als P. Agostino zugegen war, stürzte sich P. Pio ganz unvermittelt auf die Knie vor seinem Mitbruder nieder und bat "schluchzend um Verzeihung". Immer wieder rief er, der Pater möge ihm verzeihen. Schließlich nannte er auch den bisher noch unbekannten Grund, nämlich, daß er ihn als "Alten" bezeichnet hatte. P. Pio erhob sich erst und umarmte seinen Mitbruder als dieser ihm ausdrücklich Verzeihung zugesichert hatte (52).

Was bereits in den vorausgegangenen Jahren der Fall war, wiederholte sich bis zum Lebensende: wiederholt beängstigten den Pater schreckliche Bilder. Gegen 1967 rief er ganz aufgeregt seinen Mitbruder P. Alessio, der in der Nachbarzelle wohnte. Pio saß auf seinem Stuhl; er sprach: "Mein Sohn, bleibe hier; denn sie lassen mich keine Sekunde in Ruhe!" Auch sonst wurde der Pater mitunter von schrecklichen Visionen gepeinigt. Einmal geschah dies auf der kleinen Terrasse vor seiner Zelle. Pio wurde von Schrecken ergriffen, erhob die Hände mit gespreizten Fingern etwa zwei bis drei Minuten lang; dabei vergoß er so viel Schweiß, daß P. Alessio zum Abtrocknen des Hauptes zehn Taschentücher benötigte. Als Alessio ein wenig später fragte, was los gewesen sei, antwortete Pio: "Hättest du das gesehen, was ich sah, wärest du gestorben" (53).

Solche Angstzustände und Depressionen, wie sie P. Pio zusetzten, haben viele Parallelen bei den Mystikern. Sie gehören ebenso wie die unerklärlichen Krankheiten zu den Symptomen, wie sie sich häufig bei den Stigmatisierten finden. (54)

III. Frömmigkeitsleben

1. Gebetsleben

P. Pio hat sich in seiner Kindheit sicherlich nicht wesentlich von seinen Altersgenossen unterschieden. Zwar versichert er selber, er habe bereits im fünften Lebensjahr dem hl. Franziskus von Assisi Treue gelobt (55), aber dem ist nicht viel Bedeutung beizumessen. So etwas ist nicht anders zu bewerten als Träume und Zukunftspläne anderer Kinder in entsprechendem Alter.

Über das Gebetsleben Pios heißt es in einer 1972 veröffentlichten Schrift: "Von seinem Gebetsleben wissen wir nichts. Auch dies ist einer der Fälle, bei denen sich P. Pio in sein Schweigen eingeschlossen hat" (56). Der Verfasser übertreibt. Beispielsweise kann man doch wenigstens ungefähr nachweisen, welche Tagesordnung der Pater einzuhalten pflegte oder wieviel Zeit er dem Gottesdienst und privater Andacht gewidmet hat. Auch die Angabe, der Pater habe "jeden Tag verschiedene Stunden dem betrachtenden Gebet gewidmet", sagt etwas über sein Gebetsleben aus (57).

Besonders viel freie Zeit stand dem Pater zur Verfügung in den Jahren, da ihm jegliche Tätigkeit in der Öffentlichkeit verboten war. Am 26. Juli 1931 hatte sein Tagewerk folgende Ordnung: Die Feier der hl. Messe nahm im allgemeinen mit Vorbereitung und Danksagung etwa vier Stunden in Anspruch. Nach der Danksagung betete P. Pio eine Stunde im Chor. Anschließend begab er sich in die Bibliothek "zum Studium und zur Lektüre". Nach der Vesper folgte eine Stunde Gebet; hernach widmete er sich der Lektüre. Darauf folgten zwei Stunden innerliches Gebet im Chor. Sehr spät ging er gewöhnlich zu Bett.

Am 1. September 1933, also in der Zeit, da die harten Maßnahmen gegen ihn wieder außer Kraft gesetzt waren, feierte Pio um 7.30 Uhr die hl. Messe. Die Austeilung der hl. Kommunion dauerte drei Viertelstunden; nach der Messe hielt er "1 bis 2 Stunden" Danksagung. Die Vesper betete er mit den übrigen Brüdern; dann folgte im Chor eine Stunde Meditation; "das gleiche" tat P. Pio am Abend. "In der übrigen Tageszeit" las er Bücher (58)

Wie erwähnt, wird in einem 1972 herausgegebenen Buch behauptet: "Von seinem Gebet wissen wir nichts." Anderer Meinung ist P. Ferdinand Ritzel. Der Artikel in seinem Buch über den Pater, den er "Der mystische Beter" betitelt, umfaßt 37 Seiten. Es handelt sich allerdings zumeist nur um allgemeine Betrachtungen des Verfassers über das "mystische Gebet". Interessant ist vor allem das, was P. Pio selber niedergeschrieben hat. So äußert er sich in einem Brief über seine "mystische Gebetsweise und deren Wirkungen": "Die gewöhnliche Weise meines Gebetes ist diese: Kaum daß ich mich zum Beten anschicken empfinde ich sofort, daß die Seele anfängt, sich zu sammeln in einem Frieden und in einer Ruhe, die man nicht mit Worten zum Ausdruck bringen kann. Die Sinnestätigkeit bleibt dann eingestellt mit Ausnahme des Gehörsinns, der einigemal nicht ausgeschaltet ist, aber für gewöhnlich keinen Verdruß bereitet. Ich muß bekennen: Wenn man auch um mich den größten Lärm machte, würde mich das nicht im geringsten belästigen. Von da aus versteht Ihr, daß es nur wenige Male sind, in denen es mir gelingt, den Verstand diskursiv zu gebrauchen. Oft geschieht es mir auch, daß sich mir in bestimmten Momenten der Gedanke an Gott, der mir immer gegenwärtig ist, ein wenig aus dem Geist entfernt. Dann fühle ich mich in einem Augenblick von unserem Herrn in einer sehr durchdringenden und süßen Weise im Grunde der Seele angerührt, daß ich die meisten Male Tränen des Schmerzen vergießen muß, weil ich einen so guten und aufmerksamen Vater habe, der mich in seine Gegenwart zurückrief. Andere Male hingegen kommt es vor, daß ich mich in größter Trockenheit des Geistes befinde. Ich fühle meinen Körper in einer großen Gedrücktheit wegen der vielen Krankheiten, ich fühle mich in einer Unfähigkeit, mich zu sammeln und beten zu können, wie groß auch das Verlangen danach ist. Dieser Zustand intensiviert sich immer mehr, so daß es ein Wunder des Herrn ist, wenn ich nicht sterbe. Wenn es dann dem himmlischen Seelenbräutigam gefällt, ein solches Martyrium zu beenden, sendet er mir in einem Augenblick einen solchen Aufschwung des Geistes, daß ich in keiner Weise widerstehen kann. Ich befinde mich in einem Augenblick gänzlich verändert bereichert mit übernatürlichen Gnaden und, mit Starkmut erfüllt, um das ganze Reich Satans herauszufordern. ... Das, was ich von diesem Gebet zu sagen weiß, ist, wie mir scheint, daß sich die Seele ganz in Gott verliert und daß sie in diesen Momenten mehr profitiert, als sie es mit vielen Jahren der Übung mit all ihren Anstrengungen könnte"(59)

Als Wirkung seiner Gebetsgnade zählt er selber auf: "Leidensbereitschaft, Gehorsam gegen den Beichtvater und Seelenführer..., Gotteserkenntnis, Selbsterkenntnis und vor allem eine tiefe Demut" (60). - Man darf bezweifeln, ob ein derartiges Eigenlob als echte Gebetsfrucht angesehen werden kann.

Am 28. November 1911 verbrachte P. Pio die Zeit zwischen 9.45 und 11 Uhr im Gebet. Er führte mit lauter Stimme "Zwiesprache mit Jesus, der Muttergottes, seinem Schutzengel und sogar dem hl. Franz, seinem Ordensvater". P. Augustin schrieb die von Pio gesprochenen Worte nieder: "O diese liebe Mutter, warum schaut sie mich so ernst an? Jesus, sage ihr, sie möge mich mit gütigen Augen anschauen! O Jesus, ich empfehle dir diese Seele. Du mußt sie bekehren. O Jesus, warum schaut mich deine Mutter nicht herzlich an? O liebe Mamma, schau mich gütig an; ich weiß, du willst mir nur gut, aber warum diese traurigen Augen? O Jesus, ich empfehle dir diese Person, bekehre sie, rette sie! Bekehre sie nicht nur, weil sie deine Gnade verlieren könnte, sondern rette sie, rette sie! Hast du nicht auch für sie dein Blut vergossen? O Jesus, bekehre diesen Mann; du kannst es, du bist allmächtig, für ihn opfere ich mich dir ganz auf. O Jesus, du willst doch nicht weggehen; bleib noch ein wenig! Es ist so schön, bei dir zu verweilen. Und wie man sich wohl fühlt bei dir! O Jesus, warum willst du fortgehen? ... O Jesus, wo bist du gestern früh gewesen? Hast du nicht diesen Spitzbuben von Teufel gesehen? Wie hat er mir Angst eingejagt! O Jesus, ich frage nicht mehr. Ich verzichte auf all deine Zärtlichkeit, aber schicke mir nicht mehr diesen Schurken von Teufel! O Jesus, noch eine andere Sache. Ich liebe dich sehr. Ich will ganz dein sein. Siehst du nicht, wie ich für dich glühe. Du verlangst von mir Liebe, Liebe, Liebe, Liebe. Sieh, ich liebe dich. Komm zu mir alle Morgen! Wir sind ganz allein. Ich mit dir und du mit mir. O Jesus, gib mir deine Liebe! Wann kommst du in mein Herz? Wenn du etwas siehst, was dir mißfällt, vernichte es! Ich liebe dich, ich werde dich eng an mich ziehen. Ich lasse dich nicht fortgehen. Du bist zwar frei. Es ist wahr. Ich ziehe dich ganz eng an mich, wie wenn ich dir die Freiheit nehmen würde. O Jesus, willst du fortgehen? Willst du vielleicht eine Seele trösten, die mehr leidet als ich, aber die sich nicht so nach dir sehnt? Mein Engel, mein Schutzengel, lobe Jesus für mich! Meine Lippen sind unwürdig und unrein, du aber bist rein. Bist du vielleicht der Engel der Finsternis? Du bist der Engel ohne Sünde, also lobe Jesus für mich! Mein Schutzengel, entferne diesen Schurken! O Jesus, heilige Hostie, Schönheit, Liebe, Jesus. ... " (61). Was soll man zu solch einem "Zwiegespräch", wie es P. Ritzel veröffentlicht hat, sagen? Warum betet P. Pio überhaupt mit so lauter Stimme, daß seine Umgebung Wort für Wort verstehen kann? Das geschieht doch nicht ohne Absicht. Überlegen wir uns einmal näher den Inhalt der gesprochenen Worte! Das ist nicht das Beten einer gesunden Frömmigkeit. Die Sprechweise P. Pios hat große Ähnlichkeit mit jener der hl. Theresia von Avila. Diese schreibt zum Beispiel einmal in der Zeit ihrer "geistigen Dürre" folgende Worte nieder: "Was? Ist es denn nicht genug, daß du mich in diesem elenden Leben hältst, daß ich mich aus Liebe zu dir füge? Mußt du dich auch noch vor mir verbergen? Wie läßt sich das mit deinem Mitgefühl vereinen? Wie kann deine Liebe zu mir das dulden? Herr, wäre es mir möglich, mich vor dir zu verbergen wie du vor mir, so würde das deine Liebe sicher nicht dulden. Solche Undankbarkeit ist zu grausam. Bedenke, daß das nicht schön gegen jemand, der dich so heiß liebt, gehandelt ist!" (62) . Die Ähnlichkeit der Sprache erklärt sich daraus, daß P. Pio die Schriften der hl. Theresia eifrig studiert hat.

P. Ritzel meint, bei den durch P. Augustin belauschten "Zwiegesprächen" habe nicht bloß Pio geredet, es seien in Wirklichkeit "echte Zwiegespräche zwischen ihm und dem Himmlischen" gewesen; freilich habe der Lauscher bloß Pios Stimme vernehmen können; die andere Seite habe er nicht zu verstehen vermocht, weil es sich vielleicht um eine "Sprache ohne Sprache" gehandelt habe, eine Sprache also, "die Jesus und die Himmlischen benutzten" (63).

2. Rosenkranz

Eine besondere Verliebe hatte P. Pio für das Rosenkranzgebet. "Pater Pio", so ist zu lesen, "war nicht nur ein glühender Verehrer der hl. Maria, sondern auch ein leidenschaftlicher - ich möchte sagen - Fan des Rosenkranzes. Er trug nicht bloß Tag und Nacht den Rosenkranz um die Hände geschlungen - er nannte ihn seine Waffe - sondern war auch ein unersättlicher Verzehrer von Rosenkränzen" (64). Bereits in der Zeit, als er zum Priester geweiht wurde, soll er sich vorgenommen haben, "täglich wenigstens fünfmal den Rosenkranz zu beten", das heißt fünfmal den Rosenkranz mit den fünfzehn Geheimnissen (65). Dabei blieb er allerdings nicht. Er betete in Wirklichkeit täglich Dutzende von Rosenkränzen (66). Man kann sich freilich nicht vorstellen, wann der Pater hierzu die Zeit gefunden hat. "Auch wenn er mit seinen Mitbrüdern ein wenig Zerstreuung suchte, fuhr er immer fort, seinen Rosenkranz durch die Finger gleiten zu lassen. Das gleiche ereignete sich im Refektorium. Die Schüssel dampfte vor ihm. Aber er beschloß sie nicht eher zu berühren, bis er einen Rosenkranz mit den 15 Geheimnissen gebetet hatte; das gleiche tat er hernach. Am Abend legte er sich nicht zur Ruhe (wenn er überhaupt schlief), bevor er nicht eine lange Vorbereitung auf die Messe gemacht hatte und bevor er nicht einige Rosenkränze gebetet hatte" (67)

Wie lange wird wohl P. Pio vor der dampfenden Schüssel gebraucht haben, bis er den Rosenkranz mit 15 Geheimnissen vollendet hatte Mit welcher inneren Anteilnahme wird er gebetet haben, wenn er zugleich "mit seinen Mitbrüdern sich unterhaltend" ein wenig Zerstreuung suchte?

"Für gewöhnlich" soll P. Pio täglich nicht weniger als vierzig Rosenkränze gebetet haben; dazu kommen noch "die vielen Stoßgebete". "Manchmal betete er auch an einem einzigen Tag sechzig Rosenkränze mit fünfzehn Gesetzchen" (68) . Bei solchen Angaben handelt es sich nicht etwa bloß im Vermutungen, die Zahlenangabe geht auf P. Pio unmittelbar zurück. Eines Tages fragte ihn ein Superior, wieviele Rosenkränze er an diesem Tag bereits gebetet habe. Der Pater antwortete: "Beh! Meinem Superior muß ich die Wahrheit sagen: Ich habe 34 gebetet" (69). Diese Zahlenangabe ist aber noch nicht vollständig; es kommen ja in den noch folgenden Stunden des Tages etliche Rosenkränze hinzu. Solcherlei Dinge werden in einer Menge von Schriften verbreitet, ohne daß sich die Schreiber irgendwelche Gedanken machen. Man muß doch fragen:

1) Hat P. Pio sein tägliches Pensum so genau gezählt? Hat er das getan, dann lag ihm an der Menge mehr als am Inhalt.

2) Der Pater müßte, um so viele Rosenkränze fertig zu bringen, mit unglaublicher Geschwindigkeit gebetet haben. Kann man dann aber bei einer Art von indischer Gebetsmühle noch von andächtigem Beten sprechen? Bei gewöhnlichen Sterblichen würde so etwas ohne Zweifel nicht anerkannt werden.

3) Nehmen wir einmal die angegebene Höchstzahl, nämlich 180 Rosenkränze zu je fünf Gesetzchen! Wenn der Pater für einen einzigen Rosenkranz in südländischem Tempo bloß zehn Minuten gebraucht hätte, dann müßten ihm hierfür am Tag nicht weniger als dreißig Stunden zur Verfügung gestanden haben! Wie geht das, wenn der Tag nur 24 Stunden zählt?

4) Es bleibt außerdem zu bedenken, daß P. Pio angeblich sehr viele Stunden im Beichtstuhl verbracht hat; er benötigte, wenigstens für längere Zeit, zur Meßfeier mit Vorbereitung und Danksagung ungefähr vier Stunden. Dazu kommen die übrigen täglichen Verrichtungen; schließlich mußte er auch noch essen und schlafen. Wie viele Stunden bleiben dann noch übrig für das Rosenkranzgebet? Man müßte an ein Düsenjägertempo denken. Nehmen wir nur einmal an, von irgendeinem anderen Sterblichen würde behauptet, er bete täglich trotz seines großen Arbeitspensums Dutzende von Rosenkränzen, wie würde über eine solche Behauptung geurteilt werden?

3. Messe

Sehr viele, die San Giovanni Rotondo besucht haben, Wollten P. Pio beim zelebrieren sehen. Maria Winowska sagt, sie habe mehreren Messen beigewohnt; nicht "zwei glichen einander" (70). Dies scheint bereits für die Zeitdauer zu gelten. Gewöhnlich liest man bloß, daß P. Pio für die Zelebration zwei Stunden gebraucht habe. Dies trifft für bestimmte Zeiten zu, aber durchaus nicht für immer. So benötigte der Pater im Jahr 1928 normalerweise 25 bis 35 Minuten (71). In der Zeit, als ihm jede Öffentliche Tätigkeit untersagt war, also zwischen dem 11. Juni 1931 und dem 15. Juli 1933, feierte er die hl. Messe in der inneren Kapelle des Klosters; in dieser Zeit dauerte sie in der Regel zwei Stunden (72). Aber der Pater stand oftmals auch mehr als drei Stunden am Altar (73). Nachdem er wieder von den ihm gemachten Auflagen befreit war, brauchte er für die Zelebration 1 1/4 Stunden, manchmal 1 1/2 Stunden (74). In den letzten Lebensjahren dauerte die hl. Messe nicht mehr so lange; "im Jahre 1965 beispielsweise "nicht über vierzig Minuten" (75). Für die drei an Weihnachten gestatteten Messen sind die Angaben nicht einheitlich; im Jahr 1931 sollen sie vier, im Jahr 1954 sogar fünf Stunden in Anspruch genommen haben (76) Allein beim Memento pflegte P. Pio zuweilen wesentlich länger zu verweilen, als sonst eine ganze hl. Messe dauert. In der Regel soll er sich fünfzehn bis zwanzig Minuten dabei aufgehalten haben (77). Für die Zeit von 1911 wird sogar behauptet: "Zum Memento war er derart vertieft, daß er mehr als eine Stunde verweilte" (78). Nach der Kommunion verharrte der Pater etwa zwanzig Minuten in stillem Gebet (79).

Lange Zeit widmete P. Pio auch der Vorbereitung auf die Meßfeier und der Danksagung, für gewöhnlich je eine Stunde. Die Danksagung dauerte zuweilen zwei Stunden 80). Es wird behauptet, daß die Vorbereitung auf die hl. Messe "einige Stunden" in Anspruch genommen habe (81).

Der Pater zelebrierte mit großer Andacht. Wir können freilich dabei nicht die Züge eines großen Skrupulanten übersehen. Sein Überängstliches, skrupulöses Gemüt zeigt sich in der "Schwierigkeit, mit der er die Konsekrationsworte sprach" (82) Wiederholt sah man ihn während der hl. Messe "innerlich so übermannt, daß er sich vor Tränen und Schluchzen kaum mehr fassen" konnte (83). Franco Lotti schildert des Paters Meßfeier von der Wandlung ab so: "Schon seht ihr, ihr geistlichen Kinder des Paters, die ihr diese Zeilen leset, mit den Augen euerer von Liebe entzündeten Seele den Pater über den Altar gebeugt, das Gesicht gespannt, die Augen voll süßer Tränen, während er die göttlichen Wandlungsworte spricht. Die Füße winden sich krampfhaft unter den Schmerzen der Wundmale; nur langsam, zögernd und schluchzend gehen die Wandlungsworte aus der von Liebesschmerz verschlossenen Kehle hervor. Nach einigen Augenblicken, wenn die höchsten Schmerzen überwunden sind, blickt er flehentlich zum Tabernakel, um die Kraft zum Sprechen der Wandlungsworte zu erbitten. Bei der Kniebeuge ist es weniger ein Sichneigen als ein Zusammenbrechen. (Die Stirne lehnt am Ende des Altares, die Pulse klammern sich an ihn, wie nach einer Stütze für eine allzu schwere Last). ... Beim 'Domine non sum dignus' hört man einen dumpfen, kurzen Schlag auf die linke Brust. Beim ersten Male ist man bestürzt. ... Bewußtsein seiner Niedrigkeit vor Gott. ... Reichlich und heiß fließen die Tränen aus den Augen des Paters, wie er mit einem Ausdruck tiefster Liebe die eucharistischen Gestalten betrachtet, die nun bald seine Nahrung und sein Trank sein werden" (84). Die Schilderung, in einer sentimental-schwulstigen Sprache abgefaßt, läßt des Paters skrupulöse Veranlagung erkennen. Vielleicht ist diese noch von außen her verstärkt worden durch P. Giustino von San Giovanni Rotondo, unter dessen Anleitung Frater Pio Philosophie studiert hat. Von P. Giustino wird gesagt, er sei "wegen seiner Gründlichkeit, die bis zum Absurden ging", im Orden berühmt geblieben. Seine peinliche Genauigkeit habe "geradezu unmögliche Formen" angenommen. Für die Vorbereitung auf die hl. Messe beispielsweise benötigte er so viel Zeit, daß er sie bereits am vorausgehenden Abend machen mußte. "Oft versteifte er sich auf einen Satz oder auf ein Wort; dann wiederholte er es mit lauter Stimme ganz langsam, fast um sich die Bedeutung nicht entgehen zu lassen." Pio fand ihn eines Abends im Kloster von San Giovanni Rotondo bei der Vorbereitung auf die hl. Messe "quälender als je" im Kampf mit den ersten Gebetsworten. Es gelang ihm nicht, über die zwei ersten Worte hinauszukommen (85). Das Beispiel P. Giustinos hat möglicherweise auf Pios Veranlagung verschlimmernd abgefärbt.

Gewöhnlich wurde Pios Meßfeier von Schauungen begleitet, aber auch von teuflischen Nachstellungen überschattet. So lesen wir: "Man kann in diesen Zügen das geheimnisvolle Zwiegespräch verfolgen. Da beteuert er etwas, sagt 'Nein' mit dem Kopf, wartet auf die Antwort. Sein ganzer Leib ist in stummem Flehen erstarrt. ... Plötzlich quellen dicke Tränen aus einen Augen, und seine Schultern, von Seufzern geschüttelt, scheinen unter einer drohenden Last zusammenzubrechen... . Indessen sieht man, daß er nicht allein wirkt. Unsichtbare Gegenwarten umgeben ihn, helfen ihm oder hemmen ihn. Eines Freitags sah ich ihn keuchen, bedrängt wie ein Kämpfer in verzweifelter Lage. Mit brüsken Kopfbewegungen suchte er vergeblich ein Hindernis zu beseitigen, das ihn daran hinderte, die Worte der Konsekration zu sprechen. Es fand dann eine Art Handgemenge statt, in dem er Sieger blieb, jedoch völlig erschöpft war. Ein andermal strömen vom Sanctus an dicke Schweißtropfen von seiner Stirn, überschwemmen das von Seufzern verzerrte Gesicht. Es ist wirklich der Schmerzensmann, der mit dem Tode ringt. Es gibt Tage, an denen er beim Sprechen der Konsekrationsworte ein wahres Martyrium erleidet" (86)

4. Beichtvater

Auf der Anschrift eines Briefes wurde einmal P. Pio als "König der Sünder" bezeichnet. Der Pater billigte diesen Ausdruck, indem er sprach: "Was will denn dieses ganze Volk von mir? Ich bin der König der Sünder" (87). Im Jahr der Stigmatisation setzte auf den Beichtstuhl Pios ein förmlicher Ansturm ein. Die Zahl der Beichtenden hat freilich in den einzelnen Jahren und in den verschiedenen Zeiten eines Jahres sehr geschwankt. Bereits vom Jahre 1918 an heißt es: "Fast alle Stunden des Morgens vergingen mit Beichthören." Noch wesentlich mehr Stunden opferte Pio im folgenden Jahr 1919. Am 16. November dieses Jahres schrieb er an P. Benedetto: "Es sind nunmehr 19 Arbeitsstunden, die ich durchhalte ohne ein wenig Ruhe. Das erklärt sich so: Es sind Hunderte und auch Tausende von Seelen, die von entfernten Landstrichen nur zu dem Zwecke kommen, um sich von ihren Sünden loszuwaschen." In dieser Zeit hörte Pio Beichten "von Morgen bis zum Abend", zuweilen "ununterbrochen 15 und 16 Stunden, ohne eine Nahrung zu sich zu nehmen" (88). Bei dieser Zeitangabe wird aber offenbar stark übertrieben oder wir müssen annehmen, daß die Behauptungen über die Meßfeier, das Rosenkranzgebet und anderes nicht stimmen.

Der Beichtandrang dauerte bis zum Beginn des Jahres 1923. P. Pio verbrachte im Beichtstuhl vom Morgen an bis 15 Uhr und von 15.30 an bis 18.30. Am Karsamstag, offenbar 1922, teilte P. Pio die hl. Kommunion aus; siebenhundert Gläubige kommunizierten (89). Die Leute waren wohl der Meinung, wenn P. Pio die Hostie reiche, sei es wertvoller. Unverständlich ist, daß die Ordensoberen dem zugestimmt haben.

Da der Pater dem Andrang der Beichtwilligen nicht gewachsen war, wurden Kärtchen ausgegeben, durch die bestimmt wurde, wann die einzelnen an die Reihe kommen konnten. Diese Maßnahme erfolgte aber erst vom Jahre 1950 an (90). Man mußte mit einer Wartezeit von drei bis vier Tagen rechnen. So sagt Maria Winowska (91); andere sprechen von einer noch längeren Wartezeit, zum Beispiel Rippabottoni - "Viele kamen, um bei Pio zu beichten; sie warteten zehn und auch fünfzehn Tage, indem sie im Umkreis (92) des Klosters im Freien auf der bloßen Erde schliefen"

Dieser gewaltige Andrang, sagt er, dauerte bis zum Anfang des Jahres 1923. Auch Johannes Maria Höcht behauptet, "Männer und Frauen" hätten sich "oft bis zu zehn Tagen gedulden müssen, bis sie, aufgerufen nach Zulassungsnummern, zur Beichte vorgelassen wurden; "bis zwölf und vierzehn Stunden" habe P. Pio Beichten gehört (93). Höcht glaubt offenbar, dies sei Jahr für Jahr und Tag für Tag der Fall gewesen. Darüber, wie der Pater neben den vielen übrigen Beschäftigungen auch noch die Zeit gefunden haben soll, täglich wenigstens 120 Rosenkränze zu beten, macht er sich freilich keine Gedanken.

Wenn P. Pio wirklich, aber nicht nur er, sondern auch seine Mitbrüder, einmal an einem Tag bis zu vierzehn Stunden im Beichtstuhl verbringen mußte, so war es eben Ausnahme, nicht Regel. Daß dem so ist, kann man Angaben anderer Schriften entnehmen. So zeigt ein Überblick Über die Jahre 1927 bis 1929, daß die Zahl der Beichtenden weit geringer war als sonst behauptet wird. Am Vormittag hat der Pater Beichten gehört, "wenn verlangte"; für den Nachmittag heißt es ebenso: "Beichte, wenn verlangt"(94) Ähnliches ergibt sich aus den Angaben für das Jahr 1934. Während der Monate Januar und Februar hörte der Pater bis gegen Mittag Beichten; am Nachmittag kamen "nur einzelne Männer" (95). Dabei sind natürlich die Vormittagsstunden abzurechnen, die der Pater für die Meßfeier sowie für Vorbereitung und Danksagung verwendet hat. Am 25. März, dem Palmsonntag, hörte P. Pio bloß eine Stunde Beichte. An den Tagen vom 26. bis zum 28. März, also in den ersten drei Tagen der Karwoche, beichteten "nur wenige bei ihm". Am Gründonnerstag, Karsamstag und Ostersonntag hörte er "vom Morgengrauen bis Mittag" Beichte, aber nicht nur er allein, sondern "zusammen mit anderen Beichtvätern". An den sonstigen Wochentagen hatte er nur "wenige oder einige" Beichtkinder; "an den Sonntagen indessen fand sich immer eine mäßige Anzahl von Personen ein" (96).

Einem Bericht vom 7. Juli 1934 ist zu entnehmen, daß an "jedem Morgen die Zahl der Beichtenden mäßig" war. Das mag damit zusammenhängen, daß P. Pio damals für die Feier der Messe mit Vorbereitung und Danksagung etwa vier Stunden verwendet hat. Sonst hat er, wie erklärt wird, "durchschnittlich an den Wochentagen zehn bis fünfzehn Männer und dreißig bis fünfzig Frauen" als Beichtkinder gehabt; "an den Feiertagen" waren es "ein wenig mehr" (97). Im Jahre 1967 sollen bei P. Pio 15000 Frauen und 10000 Männer gebeichtet haben; die Zahl der Männer wurde allerdings nur geschätzt. An jedem Morgen soll der Pater 35 bis 40 Frauen und 25 bis 30 Männern das Bußsakrament gespendet haben; in früheren Jahren waren es angeblich "viel mehr" (98)

Es unterliegt natürlich keinem Zweifel, daß P. Pio viel Zeit im Beichtstuhl verbracht hat. Zu bedenken ist aber, daß seine Mitbrüder ebenfalls viel Zeit, vielleicht genausoviel dafür verwendet haben wie er, wenn auch zutrifft, daß die Zahl der Beichtenden im Kloster San Giovanni Rotondo der Person Pios wegen gewaltig angestiegen ist. Andererseits kennen wir Männerklöster, in denen täglich viele Stunden Beichtgelegenheit gewährt wird. Aber von diesen spricht man nicht, weil man es bei ihnen als selbstverständlich findet.

Die Herzenskenntnis, welche P. Pio zugeschrieben wird, soll sich in besonderem Maße auch bei der Spendung des Bußsakramentes bewährt haben. "Die Sünder", so sagt Johannes Maria Höcht, "können ihm nichts verschweigen, da er die Gabe der Herzenskenntnis besitzt" (99). Da könnte man freilich fragen, ob ausgerechnet jene, die unbedingt bei P. Pio beichten wollten, mit dem Vorsatz gekommen seien, schlimme Verfehlungen zu verschweigen.

P. Pio werden hinsichtlich der Spendung des Bußsakramentes noch mehr außergewöhnliche Gaben zugeschrieben. Da kamen eines Tages 24 amerikanische "boys" mit dem Vorsatz, bei P. Pio zu beichten. "Der Pater versteht kein Wort der englischen Sprache"; die Amerikaner verstehen "kaum oder gar nichts italienisch"; aber sie kommen doch "begeistert" aus dem Beichtstuhl. Auf Fragen geben sie zur Antwort. "Pater Pio versteht uns, das steht fest." Wie er das fertig bringe, so meinen sie, daß sei seine Sache. Sie versichern auch. "Er sagt uns, was wir erwartet haben." Sie haben jedoch den Pater nicht verstanden! (100). Es müßte einleuchten, daß man daraus nicht einen Beweis für Herzenskenntnis fabrizieren kann. Andererseits muß man mit Recht fragen: Welchen Sinn hat eine Beichte bei einem Priester, der die Sprache des Beichtenden nicht versteht?

Einmal hat P. Pio gar einem Kranken, der weit von San Giovanni Rotondo entfernt wohnte, nach erfolgter Fernbeichte die Lossprechung erteilt, Dies geschah im, Jahre 1920. Als die Seminaristen vom Chor zurückkehrten, befand sich P. Pio "am Fenster zum kleinen Saal"- Da hörten alle Seminaristen "klar die Worte": "Ego te absolvo... ", die von ihm "deutlich ausgesprochen wurden. Was hat sich da zugetragen? P. Onorato, ein Zeuge des Vorfalls, berichtet: "Einige Tage darauf erfuhren wir durch einen Brief, daß sich der Pater an diesem Tag in einem bestimmten Landstrich aufhielt, um die Beichte eines Kranken zu hören" (101). In diesem Fall wird also P. Pio die Gabe der Bilokation zugesprochen.

Ein anderes Mal, es war in seinen letzten Lebensjahren lag der Pater in seinem Bett; P. Alessio saß auf einem Stuhl in der Zelle; P. Pio betete den Rosenkranz; plötzlich schrie er: "Was willst du..., was willst du?... Komm her... , geh hierher!" Es war, wie wenn er zu einem Sünder spräche. Nach einigen Minuten sprach er die Absolutionsformel (102). Also hat wieder jemand gebeichtet, der gar nicht anwesend war. Aber in solcher Weise wird kein Bußsakrament gespendet. Die Szene ist ein eindeutiger Beweis dafür, daß P. Pio unter dem zwingenden Einfluß von akustischen und optischen Trugwahrnehmungen Wechselgespräche mit Personen seiner Vorstellungswelt führte. Trugwahrnehmungen gehören zur Symptomatik von Psychosen.

Die Gabe der Herzenskenntnis befähigte angeblich P. Pio, auch Leuten, die gar nicht beichten wollten, ihre Sünden vorzuhalten und sie förmlich zur Beichte zu zwingen. So sagt Maria Winowska: "Andere zwingt er direkt zu beichten, obwohl sie gar nicht wollen" (103). Zu einem Kaufmann aus Pisa, der überhaupt nicht ans Beichten dachte, sagte der Pater: "Unglücklicherweise kannst du dich wohlbefinden mit so vielen Sünden auf dem Gewissen? Ich sehe zumindest zweiunddreißig!" Diese Eröffnung trieb den Kaufmann in den Beichtstuhl(104) . Unklar bleibt allerdings, warum sich der Kaufmann von Pisa, der ja durchaus nicht als beichtwillig geschildert wird, nach San Giovanni Rotondo begeben hat und wie und wann ihm die Gelegenheit zu einer Unterredung mit dem Pater verschafft worden ist.

Was bei Pios Beichtprgxis mehr als überrascht, ist die Tatsache, daß er gar nicht selten Beichtende buchstäblich fortgejagt hat. Dies fällt um so mehr auf, da er doch andererseits zuweilen Nichtbeichtwillige zum Empfang des Bußsakramentes geradezu gezwungen hat. Den Grund für die Verweigerung der Lossprechung gaben manchmal "gewisse Fehler ab", denen gegenüber der Pater "unerbittlich" war (105). Offenbar handelt es sich um Verfehlungen gegen das 6. Gebot. Darauf deutet eine Bemerkung seiner Mitbrüder hin, P. Pio habe "ohne Gnade und ohne Erbarmen" besonders "bestimmte Sünden" verdammt, "wie die unerlaubte Beschränkung der Kinderzahl, worin der Pater unerbittlich" gewesen sei (106) . Die Art, wie der Pater gelegentlich Beichtende behandelt hat, ist mehr als anstößig. "Er verjagt aus dem Beichtstuhl, verjagt von neuem, um nochmals zu verjagen" (107). Man möchte annehmen, in solchen Fällen hätte es sich um außerordentlich gewichtige Gründe gehandelt. Das war aber offenbar nicht so. Lorenzo Patri argumentiert so: "Wenn er aus dem Beichtstuhl Sünder fortschickt und wiederholt fortschickt, so vielleicht deshalb, weil diese armseligen Seelen das Bedürfnis nach Gott übermächtig in sich verspüren; haben sie auf bekümmerter Suche den Herrn einmal wieder gefunden, so verlieren sie ihn nicht mehr" (108). Hier wird eine Begründung für die Verweigerung der Lossprechung gebracht, wie sie törichter nicht sein könnte.

Andere, die ohne Absolution Pios Beichtstuhl verlassen mußten, wurden abgewiesen, weil sie "ohne die für das Bußsakrament erforderliche Reue und Gewissenserforschung" gekommen waren. "Man sieht, wie sie sich nach den ersten Worten wieder aus dem Beichtstuhl entfernen. ... Es geschah, daß Pater Pius mit seiner Gabe der Unterscheidung der Geister ihre seelische Indisposition und den Stand ihrer Vorbereitung ersah" (109).

Einmal verjagte P. Pio sogar ein zwölfjäliriges Mädchen aus Cosenza, Mariella mit Namen. Er wies die Beichtende aus dem Beichtstuhl mit den Worten: "Geh! Ich kann dich nicht beichthören." Weinend begab sich das Mädchen zu seinen in der Kirche anwesenden Eltern. Trotz dieser peinlichen Szene harrten die Drei in San Giovanni Rotonde weiter aus. Abends fragte dann Mariella in Gegenwart ihrer Eltern den Pater: "Warum, Pater, haben Sie mich nicht zur Beichte angenommen?" Der Pater gab zur Antwort-. "Ich hätte es schon können, aber ich tat es zu deinem Nutzen. Du gehst fast nie in die Sonntagsmesse und vernachlässigst den Katechismus, weil deine Eltern mit dir anderswo hinfahren. Wenn ich also deine gewöhnlichen Kleinigkeiten anhöre, während du wesentliche Dinge übergehst, kommen wir zu nichts" 110). Wiederum muß man fragen- Hat ein Beichtvater das Recht, so zu handeln? Oder hat ein "Heiliger" andere Rechte?

Ein Mitbruder Pios wurde eines Tages in den Beichtstuhl gerufen. Es erschienen zwei Frauen. Die eine erklärte, völlig erregt und in Tränen aufgelöst, sie sei von P. Pio vertrieben worden. "Kaum daß sie die kleine Türe des Gitters zum Beichtstuhl geöffnet hatte", begann der Pater zu schimpfen und sie "auf gar üble Art und Weise" zu verjagen. Die Frau wurde durch den Mitbruder Pios allmählich beruhigt und erhielt die Lossprechung. Dann kam die zweite Frau, die von P. Pio in derselben Weise behandelt worden war. Sie versicherte, "sie sei, ohne daß sie den Mund geöffnet habe, vertrieben worden". Auch sie erhielt nun die Lossprechung. Der Berichterstatter führt als Begründung des unerhörten Verhaltens an: "Pio hat durch diese rauhe und energische Art die Damen innerlich erschüttert, sonst wäre ihre Beicht eine der gewöhnlichen geworden, ohne wirkliches Heil. Pio habe durch seine herbe Art die beiden geheilt" (111) Einige Tage später berichtete eine weitere Dame, sie habe bei Pio beichten wollen. "Kaum kniete sie sich nieder, machte er ihr Vorwürfe und trieb sie fort." Nach einem Jahr kam sie wiede und beichtete bei P. Pio. Nunmehr ging die Sache in Ordnung (112) - Hatte P. Pio das Recht, so als Beichtvater zu handeln? Durfte er die Lossprechung verweigern, wenn überhaupt kein entsprechen der Grund vorlag? Auch für einen Stigmatisierten gelten die kirchlichen Gesetze.

Man sträubt sich fast zu glauben, in welch brutaler Weise P. Pio zwanzig Jahre lang eine Engländerin "aus sehr guter Familie" behandelt hat. Eines Tages kniete sie an seinem Beichtstuhl nieder. P. Pio blickte sie bloß an, dann "schloß er ihr heftig den Schalter vor der Nase", indem er sprach: "Für Sie habe ich keine Zeit!" Die Frau war wie erschlagen. "Zwanzig Jahre kam sie mit dem gleichen Anliegen wieder. Und jedesmal erlebte sie die gleiche Abfuhr. Vergeblich flehten Pater Pios geistliche Töchter ihn an, sie doch anzuhören." Schließlich, nach Ablauf von zwanzig Jahren, empfing er sie mit folgenden Worten, die sie getreulich ihren Freunden mitteilte: "Arme Blinde, statt dich über meine Strenge zu beklagen, müßtest du dich fragen, wie es möglich ist, daß dich die Barmherzigkeit Gottes nach so vielen Jahren von Sakrilegien empfängt! Weißt du, daß das, was du getan hast, entsetzlich ist? Wer ein Sakrileg begeht, ißt seine eigene Verdammnis, und ohne eine besondere Gnade, die Seelen erlangen, die Gott besonders nahe stehen, kann er nicht erlöst werden. Hast du nicht Jahre lang im Stande der Todsünde an der Seite deiner Mutter und deines Gatten kommuniziert, nur um den Anschein der Ehrbarkeit zu wecken?" Auch in diesem Falle, so sagt die Berichterstatterin Maria Winowska, folgte wieder eine große "Rückkehr, die das inbrünstige Verlangen auslöste, wieder gutzumachen und andere Seelen vor dem Verbrechen des Sakrilegs, des Gottesraubs zu warnen" (113). - Ist so etwas möglich? Kann P. Pio tatsächlich so gehandelt haben? Es sträubt sich einfach alles, solch ein entsetzliches Verhalten für wahr zu halten. Eine Frau kommt zwanzig Jahre hindurch regelmäßig von England nach Süditalien, um zu beichten, und wird jedesmal verstoßen, verstoßen von einem "Heiligen", der im Dienste des Barmherzigen Samariters steht, der nie einem reumütigen Sünder einen Fußtritt verabreicht hat! Erst nach zwanzig Jahren wirft der Pater jener Frau "Sakrilegien" vor! Die ganze Zeit hindurch hat er aber nichts getan, diese zu verhindern, nicht einmal durch ein beratendes Wort! Warum hat die Kraft seiner Herzenskenntnis der Frau nicht geholfen, wenn sie schon tatsächlich so unchristlich gelebt hat? Und wie hören sich die Worte des Paters Gott besonders nahe stehe, nur sich selbst gemeint haben. Man stelle sich nur einmal vor, so brutal, ja derart dumm hätte irgendein anderer Priester gehandelt! Man kann sich ausmalen, wie gerade jene Leute über ihn herfallen würden, die es offenbar als besonderes Zeichen göttlicher Erwählung ansehen, wenn ein Pater Pio so vorgeht.

Menschen in aller Öffentlichkeit zu blamieren, das hat offenbar P. Pio auf Grund seiner "Herzenskenntnis" nichts ausgemacht. So verweigerte er ja auch "manchen Pilgern" die Kommunion. "Sie können drei, fünf, zehn Mal an der Kommunionbank niederknien; er geht an ihnen vorbei." Einem Mann, der dem Pater in die Sakristei nachfolgte, sagte er: "Geh fort, heirate die Frau, mit der du zusammenlebst, und dann komme zurück! " (114) . Es läßt sich nicht nachprüfen, ob die Berichte alle so stimmen, wie sie verbreitet werden, aber auf jeden Fall darf niemand an der Kommunionbank in derartiger Weise beschämt werden. P. Pio hat ja doch andererseits auch zum häufigen Kommunionempfang mit scheinbar weitherzigen Worten ermuntert, wenn er vor 1942 "als Seelenführer" schreibt: "Versäumen Sie um nichts in der Welt die tägliche Kommunion! ... Solange man sich nicht sicher ist, eine schwere Sünde begangen zu haben, soll man sich nicht der Kommunion enthalten" (115)

Wie vereinbaren sich solche Ermahnungen mit seinem Verhalten gerade jenen Menschen gegenüber, deren Gewissen in keiner Weise schwer belastet war? Diese durften also zur Kommunion gehen, aber im Beichtstuhl konnten sie keine Lossprechung von ihren Fehlern erhalten? Da hören eines Tages die in der Nähe von Pios Beichtstuhl Stehenden die Türe desselben "heftig knallen". "Via!", "Fort!", ruft P. Pio "einem blonden jungen Mädchen zu, das heiße Tränen vergießt und seufzt. Es verläßt den Beichtstuhl, schleppt sich vor ihn. ... Er verjagt es mit seinem Taschentusch." Wieder ruft er: "Fort! Ich habe keine Zeit für dich!" Das Mädchen geht; "es seufzt weiter, als ob es ihm das Herz bräche." Es kehrt um und stellt sich wieder in die Reihe der Beichtenden, "aber eine Frau, die an der Reihe ist, stößt sie zurück." "Arme Kleine", sagt der Pater, der die Aufsicht führt, "laß den Mut nicht sinken!" Weiches Verbrechen hat wohl dieses weinende, bußwillige Mädchen begangen, daß es so brutal verstoßen wird? Der aufsichtführende Pater weiß Bescheid; er entschuldigt Pio: "P. Pio liest in den Gewissen und schickt die Personen fort, die nicht in der richtigen inneren Verfassung sind. ... Um ein Herz zu waschen, ist ein ganzer Tränenregen nötig. ... Es ist vielleicht aus Neugier gekommen. Viele Frauen kommen aus Neugierde; P. Pio spürt es" (116)

Selbst wenn des Paters Argumente zutreffend gewesen wären, niemals hätte Pio so handeln dürfen. Angeblich hat die Gabe der Herzenskenntnis P. Pio "befähigt", gegen Beichtkinder in der geschilderten Weise vorzugehen. Aber er verdankte sein Wissen auch der unmittelbaren Erleuchtung aus dem Jenseits. "Die Mutter Gottes und der hl. Franziskus standen allezeit zu den Seiten des Beichtvaters, um ihm beizustehen." Wer das verraten hat? Man höre und staune! Das haben "Dämonen" geoffenbart. Für die Richtigkeit dieser Angabe verbürgt sich der Kapuzinerpater Tarcisio Zullo aus Campobasso. In den Jahren, als er in San Giovanni Rotondo weilte, beauftragte ihn P. Pio, "die Exorzismen bei drei Besessenen vorzunehmen". Pio sprach: "Es sind wirklich die Dämonen diesmal in jenen Geschöpfen! Geh und fürchte dich nicht, weil ich dir nahe sein werde!" Während der Exorzismen fragte der Exorzist den Dämon über viele Dinge aus. Er verlangte auch Auskunft, warum P. Pio als Beichtvater so viele Seelen mit ausnehmend großer Strenge behandle. Der Dämon antwortete: "P. Pio behandelt jene Seelen, wie Gott es will. Zu den Seiten des Beichtvaters befinden sich immer zu seinem Beistand die Mutter Gottes und der hl. Franziskus und P. Pio macht und sagt nur das, was ihm von diesen eingegeben wird" (117). Damit wäre also die Sache geklärt. An dem geradezu unmenschlichen Verhalten Pios als Beichtvater sind die Mutter Gottes und der hl. Franziskus schuld! Ein besseres Zeugnis als das der "Dämonen" kann man sich wohl nicht mehr denken. Es ist auch zu Überlegen, daß an Tagen, an denen P. Pio bis zu sechzehn Stunden im Beichtstuhl verbracht hat, die hl. Maria und Sankt Franziskus keine angenehme Aufgabe zu erfüllen hatten, da sie viele Stunden lang nichts anderes zu tun hatten, als am Beichtstuhl Pios zu stehen. Zu bedenken wäre auch, daß sich ihre Aufsicht sehr einseitig auf einen einzigen Menschen auf der ganzen Erde beschränkt hat; denn Allgegenwart werden den beiden wohl auch die Verehrer des Paters nicht zuerkennen wollen.

5. Leidensliebe

P. Pio hat nicht erst, seitdem er die Wundmale trug, ein von Leiden geprägtes Leben geführt. Opfer zu bringen und Leiden auf sich zu nehmen, danach verlangte ihn bereits in seiner Kindheit. Schon als Kind verzichtete er auf sein bequemes Bett; er schlief auf bloßem Boden (118). Zuweilen begnügte er sich mit einem Stein als Kopfkissen (119). "Er war kaum neun Jahre alt, als seine Mutter die Entdeckung machte, daß ihr Sohn mit (120) einem Stein unter dem Kopfe auf der Erde schlief" . Zusätzlich ersann Francesco andere Methoden, um sich Opfer aufzuerlegen. Gelegentlich wurde er von Kameraden "an langen Winterabenden bespitzelt". Sie lauerten vor seinem Schlafzimmer; "das Zimmer war dunkel, aber man hörte die Schläge eines Menschen, der mit einem Hanfseil den eigenen Körper schlug" (121). Dann überraschte die Mutter Giuseppina ihren neunjährigen Sohn, wie er sich mit einer eisernen Kette schlug. Aber "Franz läßt sich nicht irremachen". Er gibt den Bescheid: "Ich muß mich schlagen, wie die Juden Jesus geschlagen haben" (122)

Namentlich während der Noviziatszeit und in den ersten Priesterjahren war Pio fortwährend kränklich. Aber er empfand die Beschwerden als Geschenke Jesu, wenn er auch über die allzu großen Schmerzen klagte. Einen Monat vor der Priesterweihe informierte er P. Benedette über "einen heftigen Schmerz an der Basis der linken Lunge". Dazu bemerkt er dann: "Diesmal wird es Jesus vielleicht wirklich ernst mit mir meinen. Dieser neue Schmerz ist viel heftiger als alle anderen" (123)

Im August 1912, zwei Jahre nach seiner Priesterweihe, schreibt er an P. Agostino: "Der Herr läßt mich wie in einem Spiegel mein ganzes Leben schauen, es werde nichts anderes sein als ein Martyrium" (124). Drei Monate später teilt er P. Agostino mit, was ihm Jesus, Maria und sein Schutzengel gesagt hatten; sie hätten ihn dadurch ermutigt, daß sie nicht aufhörten, ihm zu sagen, daß das Opfer, um sich als solches bezeichnen zu können, sein ganzes Blut verlieren muß" (125). Seinen Mitbruder Agostino erinnert er an frühere Erklärungen: "Habe ich Euch nicht gesagt, daß Jesus will, daß ich ohne jeden Trost leide? Hat er mich denn nicht zu einem seiner Opfer gewollt und erwählt? Und der allersüßeste Jesus hat mich voll und ganz begreifen lassen, was es bedeutet, Opfer zu sein. Man muß, lieber Papa, bis zum 'consummatum est' gelangen" 126)

P. Pio trägt nicht bloß seine Last gottergeben, sein Leidenswille sehnt sich förmlich nach immer neuen Opfern, "Ich kann es nicht verstehen", schreibt er, "aber ich weiß es mit Sicherheit, daß ich einen äußerst brennenden Durst verspüre, sehr leiden zu wollen. Ich fühle ein fortwährendes Bedürfnis, immer dem Herrn zu sagen: 'Entweder leiden oder sterben', ja sogar: 'Immer leiden, niemals sterben!"' Kaum ein Tag vergeht, an dem der Pater nicht Gott seine Leidensbereitschaft beteuert und sich erneut zum Opfer anbietet. Manchmal tut er dies in besonders feierlicher Weise, so am 26. August 1912; "er weihte sich als Opfer ohne jeden Vorbehalt" (127). Im Brief vom 7. Juli 1913 an P. Agostino bekennt er: "Das Leben gestaltet sich mir als ein grausames Martyrium... ; die Qual, die ich in bestimmten Augenblicken fühle, ist unerträglich; denn mein Herz will, daß das ganze Leben gleichsam mit Kreuzen und Verfolgung übersät wäre. ... Der Schmerz ist nunmehr noch grausamer geworden; es scheint mir, daß mein Herz durch und durch durchbohrt wird" (128) Einen Monat bevor Pio zum Militärdienst eingezogen wurde, schrieb er: "Alle Qualen dieser Erde zusammengefaßt in einem Bündel, ich nehme sie an, mein Gott, ich sehne mich danach als meinem Anteil" (129). Ähnlich schreibt er am 27. Juli 1918: "Ich will leiden; das ist mein heftiges Verlangen" (130) Den einen der genannten Briefe schrieb P. Pio im Jahre 1915 kurz vor seiner Einberufung zum Militär, den anderen ein paar Monate nach seiner Entlassung. Beide sprechen von einem unbändigen Leidenswillen. Ganz anders klingen die Jammerbriefe, die er während seiner Militärdienstzeit geschrieben hat. Immer wieder beklagt er sich da über seine "tiefste Erniedrigung" (131). Er bittet, Gott möge ihn befreien "aus der gegenwärtigen Prüfung" oder ihn "bald zu sich rufen". Nur ein paar Jahre vorher hatte er geschrieben, er wolle "immer leiden, niemals sterben" (132) Pio bezeichnet seinen Soldatendienst als "unglückliches Schicksal", das "über seine Kräfte gehe". Er jammert über die ihm zugestoßene "Ungerechtigkeit", Über die Prüfung, die ihn zu "zerschmettern drohe", die ihm das Leben "gänzlich unerträglich mache" (133). - Nun, niemand wird es P. Pio verübeln, daß er kein begeisterter Soldat war. Aber wenn er sich schon immer und immer wieder geradezu nach einem grausamen Martyrium gesehnt hat, hätte er den vergleichsweise erträglichen Sanitätsdienst für verwundete und leidende Kameraden, wenn auch nicht aus Begeisterung, so doch geduldig ertragen müssen. Die so ganz verschiedene Sprache hier und dort macht doch nachdenklich. Pio war während des Krieges für kurze Zeit zum Dienst in einem Lazarett abgestellt worden; zumeist aber war er selber Patient. Millionen von Soldaten hatten ein unvergleichlich härteres und gefährlicheres Los zu ertragen. Auch seine zum Kriegsdienst eingezogenen Mitbrüder in San Giovanni Rotondo hatten das Mönchsgewand mit der Soldatenuniform vertauschen müssen. Ihr Dienst war ohne Zweifel zumeist weit beschwerlicher als der des Paters Pio. Wenn er als Soldat fortwährend mit den bittersten Ausdrücken sein unerträgliches Los bejammert, wie groß waren denn dann die Schmerzen, die er als Zivilist angeblich zu ertragen hatte? Wie groß waren dann die Schmerzen, die er später durch seine Wundmale zu erdulden hatte? Sie müssen doch wesentlich geringer gewesen sein.

Ein Mitbruder Pios schreibt: "Padre Pio, von Gott ermutigt, immer mehr den Kreuzweg zu beschreiten, sieht sein ganzes Leben wie in einem Spiegel, als nichts anderes als ein ununterbrochenes Martyrium. Jesus selbst will sein Leiden. Der Herr selbst bettelt um seine Qualen, seine Tränen; und mit bittender und doch befehlender Stimme verlangt er von Padre Pio, seinen Körper zu opfern, damit seine Leiden erleichtert werden. Ohne Verschulden, dazu auserwählt, bei der großen Rettung der Menschheit zu helfen, hat Padre Pio ein heißes Verlangen nach Leiden. Er würde sich heftige Vorwürfe machen, - dieser Herold des Kreuzes -, wenn er auch nur eine Stunde ohne Kreuz wäre, oder wenn andere kämen, es ihm abzunehmen. Er will nicht nur, daß sein Lebensweg immer mehr mit Leiden und Verfolgungen besät sei, sondern verlangt sogar, daß er die gleichen Leiden des Herrn mitmache." Von einem Mitbruder gefragt, wann er leide, gab Pio zur Antwort: "Immer, mein Sohn!" Eine weitere Frage lautete: "Pater, habt Ihr immer gelitten?" Der Gefragte gab zur Antwort: "Schon im Schoße meiner Mutter!" Nochmals wird Pio gefragt -. "Wieviel leidet Ihr, Pater?" Er erwiderte: "So viel, wie derjenige leiden kann, der die ganze Menschheit auf sich nimmt" (134). Wenn man nach derartigen Kraftausdrücken andere Aussagen und Beteuerungen Pios bemessen wollte, dann müßte man deren Wahrheitsgehalt schwer in Zweifel ziehen.

Als im Jahre 1946 P. Giovanni seinen Mitbruder Pio fragte, ob er die "ganze Passion Christi" erlebe, antwortete der Gefragte "mit einem Ausdruck schmerzvoller Sammlung": "Ach, wenn ich das gewußt hätte!" Giovanni fragte weiter: "Hast Du es vielleicht bereut, daß Du Priester geworden bist?" Die Antwort lautet: "Wenn ich als Student die Erkenntnis gehabt hätte, die ich heute habe, hätte ich mich in eine Wüste zurückgezogen und hätte mich nicht weihen lassen" (135) . Solche Worte müssen doch sehr überraschen. Pio selber hat doch beteuert, er wolle "immer leiden, niemals sterben". "Alle Qualen dieser Erde zusammengefaßt in einem Bündel, ich nehme sie an, mein Gott, ich sehne mich danach als meinem Anteil." Diese Worte Pios sind zwar an sich schon unerhörte, kaum überbietbare Phrasen; sie erweisen sich erst recht als solche im Hinblick auf dessen jämmerliches Klagen über die Leiden seines kurzen Sanitätsdienstes. Wenn er durch und durch von unstillbarer Leidenssehnsucht erfüllt war und wenn ihm das Priestertum die heißersehnte "ganze Passion Christi" war, wie konnte er dann bedauern, Priester geworden zu sein? Er war doch schon längst Priester, als er immer und immer wieder seine außerordentliche Sehnsucht nach Leiden, ja nach dem Martyrium zum Ausdruck gebracht hat. Immer wieder wird geschildert, mit welcher Andacht Pio die hl. Messe gefeiert hat, wie er sich gewissenhaft darauf vorbereitete und wie lange die Danksagung dauerte. Immer wieder wird gerühmt, daß er sich ohne Rücksicht auf die eigene Person dem Heil seiner Mitmenschen gewidmet hat, insbesondere im Beichtstuhl. All das, so heißt es doch, war seine tiefste Freude. Und nun sagt dieser selbe P. Pio, er hätte sich lieber nicht zum Priester weihen lassen! Da bleibt doch nur übrig zu folgern: Irgendwann war etwas nicht echt. Außerdem weiß doch P. Pio selber zu berichten, wie ihm bereits vor dem Eintritt ins Kloster Christus unmittelbar zu wiederholten Malen erschien und ihm seine Hilfe versprach. Ja, noch in der letzten Nacht, die er vor seinem beginnenden Noviziat im Elternhaus verbrachte, erschienen ihm Jesus und Maria, die ihn "ermutigten" und ihm "ihre Vorliebe" verhießen. Wenn also P. Pio erklärt, er hätte sich nicht weihen lassen, falls er gewußt hätte, was seiner wartete, dann klagt er doch auch Jesus und Maria an, die ihn falsch beraten haben.

Ein bekanntes Sprichwort sagt: "Lerne leiden ohne zu klagen!" Es gibt Menschen, und dazu gehört offenbar P. Pio, die in ihrem Verhalten das Sprichwort umkehren in: "Lerne klagen ohne zu leiden!" Auf jeden Fall beruhen die "Leiden" des Paters nicht auf einer körperlichen Störung oder einer Organerkrankung; die zahlreichen somatischen Beschwerden sind Ausdruck einer vitalen Verstimmung. Es sind die typischen Mißempfindungen einer Psychose, die freilich auch das Leben schier unerträglich machen können.

6. Der Soldat

Als größtes persönliches Unglück und auch als unverdientes Unrecht betrachtete P. Pio es daß er während des Ersten Weltkrieges zum Militärdienst eingezogen wurde. Über Neapel kam er dabei freilich nicht hinaus. Trotzdem betrachtete er seine kurze, immer wieder von langem Genesungsurlaub unterbrochene Dienstzeit als ein wirkliches Martyrium. Am 6. November 1915 mußte er zum Militärdienst einrücken; am 6. Dezember wurde er zur Sanitätskompanie beim Militärlazarett in Neapel abgeordnete Aber bereits am 18. Dezember erhielt er seiner Kränklichkeit wegen einen Genesungsurlaub von einem Jahr (136). Da hat P. Pio aufgejubelt und mit ihm haben sich besonders gefreut P. Agostino und P. Benedetto. Sie dankten Gott, weil er den Schwerheimgesuchten wenigstens für eine längere Zeit gerettet hatte, gerettet aus der "Babylonischen Gefangenschaft" (137)

Nach Ablauf des Genesungsurlaubs wurde Pio nach vorgenommener ärztlicher Untersuchung nochmals auf sechs Monate beurlaubt. "Am 30. Juni 1917 fand sich P. Pio pünktlich bei dem Truppenteil ein, dem er zugeordnet war" (138). So schreibt Patri in seinem Buch über den Pater. Aber das stimmt nicht; P. Pio hat seinen Urlaub wesentlich verlängert. Da er nicht zum bestimmten Termin bei seinem Truppenteil eintraf, wurde er in die Liste der Deserteure aufgenommen. Der Brigadier der Carabinieri von Pietrelcina erhielt den Befehl, Francesco Forgione zu suchen und unter Geleit sofort abzuliefern. Der "Marschall" durchsuchte den Marktflecken Pietrelcina nach dem Deserteur Fr. Forgione; aber diesen kannte man dort nicht, weil er nur unter dem Namen Pio bekannt war. Also verlief die Aktion ergebnislos. Eines Tages erhielt der "Marschall" einen neuen Befehl, er solle die Nachforschungen verschärfen. Der Zufall wollte es, daß der Marschall auf Pios verheiratete Schwester stieß, welche natürlich einen Francesco Forgione kannte. Der Marschall von Pietrelcina schrieb nun sofort an seinen Kollegen in San Giovanni Rotondo, jener Francesco Forgione müsse ohne Verzug nach Neapel zurückgebracht werden. Aber auch diesmal klappte die Sache nicht.

Nach mehr als zwei Wochen berichtete der Marschall von San Giovanni Rotondo, hier sei weder ein Francesco noch sonst ein anderer mit dem Namen Forgione bekannt. Der Deserteur blieb also weiterhin unauffindbar. Schließlich klingelte der Brigadier von San Giovanni Rotondo an der Pforte des Kapuzinerklosters und vertraute dem Pförtner seinen Kummer an. Der Pförtner kannte den Gesuchten. Nun mußte also P. Pio, nach wesentlich verlängertem Urlaub, wieder einrücken. In Neapel herrschte ihn sein Hauptmann an: "Soldat Forgione, wissen Sie, daß Sie als Deserteur gesucht werden?" Pio verneinte die Frage und verteidigte sich, indem er seinen Urlaubsschein vorwies, auf dem geschrieben stand: "Sechs Monate Urlaub; dann neue Befehle abwarten!" Pio erklärte: "Ich habe gehorcht! Ich habe gewartet?" (139) So mit ganz rechten Dingen dürfte es bei dieser Affäre nicht zugegangen sein. Daß man in San Giovanni Rotondo einen Francesco Forgione nicht gekannt hat, ist glaubhaft; daß man aber auch in Pietrelcina nichts von ihm gewußt hat, das ist doch schwer zu glauben. In dem kleinen Marktflecken war doch die Familie Forgione wohlbekannt und auch den Francesco kannten die Leute; er hatte ja vor nicht einmal fünfzehn Jahren noch so geheißen. Ob sich nicht die Leute mit Absicht dumm gestellt haben? Es scheint auch, daß P. Pio ganz gerne den Text seines Urlaubsscheines buchstäblich ausgelegt hat.

An dem Militärdienst hatte P. Pio absolut kein Gefallen. Alle Briefe aus dieser Zeit wimmeln nur so von herzzerreißenden Eingeständnissen seiner "Niedrigkeit", ja seiner "tiefsten Erniedrigung" (140). Mitte August 1917, am siebten Jahrestag seiner Primiz, schrieb er an eine seiner "geistlichen Töchter" einen Brief, in dem er seiner verzweifelten Stimmung Ausdruck verlieh: "Man darf nicht aufhören, dem göttlichen Herzen wie auch dem Herzen seiner süßesten Mutter sanfte Gewalt anzutun. ... Möge es mich befreien von der gegenwärtigen Prüfung und sie mir in eine andere umwandeln im Schatten des heiligen Klosters oder auch mich zu sich berufen, und zwar bald. ... Sie müssen wissen, daß es im hiesigen Lazarett keine Kapelle gibt und es auch nicht erlaubt ist, den Fuß nach draußen zu setzen. ... So bin ich des Heilandes beraubt und kann nicht zelebrieren. ..." Am 5. September schrieb er: "Sie kennen schon mein unglückliches Schicksal. Jesus hat mich mit einer Abtötung bestrafen wollen, die über meine Kräfte geht. Ich hätte Sie gerne die Diagnose lesen lassen, die von der Klinik über meine Krankheit ausgestellt wurde: physisch zum Skelett abgemagert, Unterernährung, ausgedehnter Bronchialkatarrh usw. usw. ... Aber was wollen Sie? Ich kehre also ins Lazarett zurück zur letzten Untersuchung beim Obersten, und dieser beschränkt sich darauf, einen müden Blick auf mich zu werfen, um mich alsdann für geeignet zu erklären. Mein Gott! Welche Ungerechtigkeit! Ich überlasse es Ihnen, wie ich mich physisch und moralisch fühle. ... Diese Prüfung droht mich zu zerschmettern. Doch der Wille Gottes geschehe..." (141) Ein Auszug aus dem Brief vom 14. September 1917 lautet: "Die Ungerechtigkeit kann nicht triumphieren, und die Ungerechtigkeit der Menschen wird der Gerechtigkeit Gottes zum Triumph dienen. Nach so vielen und verschiedenartigen Prüfungen des Leidens wollte Jesus mich auch noch dieser Prüfung unterziehen, die mir das Leben gänzlich unerträglich macht"(142). Das sind Worte der Verzweiflung und der Selbstbemitleidung, auf die ein Heiliger in durchaus erträglicher Lage verzichten müßte. P. Pio wurde schließlich zu Beginn des November 1917 auf vier Monate beurlaubt. Im März 1918 erhielt er wegen doppelseitigen Bronchialkatarrhs die Einweisung ins Militärlazarett von Neapel. Am 16. März wurde er entlassen, wobei ihm eine Rente gewährt wurde. Merkwürdigerweise war "von dieser ihrer Natur nach besonders gearteten Krankheit einige Monate später keine Spur mehr vorhanden." Dies erklärt in eindeutiger Weise, daß die Krankheit Pios psychischer Natur war. Nun hatte also "Gott seinen Diener erhört"; er hatte ihn befreit von der "Babylonischen Gefangenschaft", wie P. Pio selber die Zeit seines Militärdienstes bezeichnete (143). Sein Verhalten beim Militär steht nicht in Einklang mit seiner sonst so ausgiebig geäußerten Leidensliebe.

IV. Mystische Offenbarungen

Wenn P. Ritzel in seinem Buch über P. Pio über das "Außergewöhnliche im eigentlichen Sinne im Leben Pater Pios" spricht, meint er "jene mystischen Begleiterscheinungen, die nun wirklich ins Außerordentliche im eigentlichen Sinn zu verweisen sind." Dann zählt er auf: "Visionen oder Schauungen, Ansprachen von Gott und seinen Heiligen, Miterleben und Miterleiden des Leidens Christi, Stigmatisation, was ihre Ausformung im Körperlich-Leibhaften betrifft, vertrauter Umgang mit dem Schutzengel, teuflische Anfechtungen, die ebenso handgreiflich erlebt werden." "Von alldem", sagt Ritzel, "berichtet P. Pio in seinen Briefen mit großer Selbstverständlichkeit. Ekstatische Aufschwünge, die sich beim Abklingen auch in Schauungen und Ansprachen brechen, sind oft eingeleitet und gefolgt von massiven Teufelsbelästigungen, die ein gottgeschenktes oder von Gott zugelassenes Gegengewicht zu den ekstatischen Erhebungen auf dem außergewöhnlich passiven Weg darstellen. Zu diesen außergewöhnlichen mystischen Begleiterscheinungen kommt beim Pater Pio noch die Fülle des Charismatischen, all jener Dienstgnaden, die nicht zur eigenen Heiligung geschenkt sind, sondern zur leichteren und wirksameren Durchführung des gottgeschenkten Auftrags, das Volk Gottes zu heiligen. Ich nenne hier nur die Gabe der Herzensschau, der Bilokation, der Krankenheilung, des Beistandes in der Todesstunde, des außerordentlichen Duftes, der vielen ein Zeichen seiner Gegenwart, seiner Mahnung und Ermunterung vermitteln durfte. Durch diese Fülle des Außerordentlichen und Wunderbaren wollte Gott seinen Erwählten auf den Leuchter stellen, ihn als seinen Gesandten beglaubigen, seine existenzielle Predigt der Liebe und des Kreuzes noch wirksamer machen, seinem Apostolat weltweite Ausmaße geben" (144) . Nach all dem, was P. Ritzel andeutet, muß es sich bei P. Pio um mehr als einen Mystiker erster Ordnung handeln.

1. Visionen

P. Pio wurde in seinem Leben als Ordensmann regelmäßig durch Visionen ausgezeichnet. Im Briefverkehr mit seinen Seelenführern ist die Rede von häufigen Ekstasen oder Verzückungen, "von Visionen und Offenbarungen bezüglich Gott, der göttlichen Vollkommenheiten, bezüglich des Gottesgeheimnisses". Er spricht in seinen Briefen auch von "visionärer Schau des Lebens und Leidens Christi, von Visionen der Muttergottes, der heiligen Engel, besonders seines Schutzengels und einigemal auch der Heiligen" (145).

Francesco Forgione trug sich bereits im Alter von fünf Jahren mit dem Gedanken, sich für immer dem Herrn "in einem Stand der Ganzhingabe" zu weihen. Damals setzten auch bereits "Ekstasen und Erscheinungen" ein, die von da an zur Gewohnheit wurden (146). Er sprach jedoch, wie es heißt, darüber mit keinem Menschen auch nur ein Wort. Allerdings fragte er "oftmals" andere: "Siehst du nicht die Madonna, siehst du nicht die Engel um den Altar herum?" (147). Demnach müßte Francesco Maria und die Engel tatsächlich gesehen haben; er müßte zudem der Meinung gewesen sein, auch andere würden solche Dinge schauen. Bis 1915 ließ er angeblich von seinen Geheimnissen nichts verlauten. Erst in dieser Zeit kam man auf irgendeine Weise doch darauf. Als er nun gefragt wurde, warum er bisher darüber geschwiegen habe, gab er "treuherzig" zur Antwort, er habe das für "gewöhnliche Sachen gehalten, die sich bei allen ereigneten". Einmal sprach er zu seinem Mitbruder P. Agostino: "Und du siehst die Madonna nicht?" Als der Gefragte versicherte, sie nicht zu sehen, erwiderte P. Pio ungläubig: "Du sagst das nur in deiner heiligen Demut" (148). P. Pio bezeichnet damit eine von ihm vermutete Lüge als Ausdruck von Demut! Die Berichte sind offensichtlich widersprüchlich. Einerseits soll P. Pio von früher Kindheit an "Ekstasen und Erscheinungen" gehabt haben, über die er jahrzehntelang strengstes Stillschweigen gewahrt hat; andererseits soll er "oftmals" andere gefragt haben, ob sie nicht auch wie er selber Muttergottes- und Engelerscheinungen hätten. Es ist unglaubhaft, daß P. Pio fünf Jahre nach dem Empfang der Priesterweihe erstmals über seine Geheimnisse geplaudert hat, wenn zugleich gesagt wird, er habe schon längst vorher "oftmals" darüber gesprochen und er sei der Auffassung gewesen, daß solche Dinge zu den Alltagserlebnissen aller Menschen gehörten.

Als eines Tages Francesco Forgione über seinen späteren Beruf nachdachte und "den Entschluß erwog, der Welt Lebewohl zu sagen, um sich Gott in einem heiligen Raume zu weihen, wurde er plötzlich hinweggerissen und gewürdigt, mit geistigem Auge Gegenstände zu bewundern, die von denen verschieden sind, die man mit irdischen Augen sieht. Er sieht an seiner Seite einen ,majestätischen Mann mit seltener Schönheit, leuchtend wie die Sonne". Dieser, es war offenbar Jesus selber, nimmt ihn bei der Hand und Francesco hört ihn sprechen: "Komm mit mir; denn du mußt mit einem tapferen Krieger kämpfen." Dann führte Jesus Francesco auf ein weites Feld. Dort befand sich eine große Gruppe von Menschen, die in zwei Abteilungen eingeteilt waren. Auf der einen Seite standen "Menschen in weißen Kleidern mit einem sehr schönen Gesicht" (149)

Besonders zahlreich waren die übernatürlichen Visionen von der Zeit an, als Francesco Forgione Novize bei den Kapuzinern war. Für gewöhnlich erschienen ihm Jesus, Maria und der Schutzengel (150). Offenbar aufgrund einer persönlichen Mitteilung berichtet P. Benedetto, P. Pio habe wiederholt Visionen gehabt von der Passion Jesu, von der Hl. Familie, von Jesus und Maria, "die sich liebkosten", von Jesus, "der sich als Kind vergnügte", und wie sich Jesus, Maria und Josef einander ihre gegenseitige herzliche Zuneigung bekundeten; ja Pio wußte sogar "das Spielzeug des Jesusknaben" (151)zu benennen

Wir haben gehört, daß bei P. Pio bereits im Alter von fünf Jahren "Visionen und Ekstasen" einsetzten. Später wurde er einmal von seinem Mitbruder P. Agostino gefragt, seit welcher Zeit er "Visionen Jesu" habe. Pio gab die Antwort in einem Brief; sie lautet: "Nicht lange nach dem Noviziat" (152) . Da muß sich aber der Pater geirrt haben; denn er erzählt ja auch, und zwar nicht bloß einmal, wie ihm Jesus bereits lange vor seinem Ordenseintritt erschienen sei.

Ohne Zweifel hat P. Pio viele Anregungen für seine "Visionen" und sonstigen "mystischen Erscheinungen" durch sein Studium erlangt, wozu dann noch eine entsprechende Veranlagung kam. Bereits in den Jahren vor seiner Priesterweihe stellte sich eine sonderbare Kränklichkeit ein, so daß er zur Erholung in seinen Heimatort geschickt wurde. In dieser Zeit "studierte" er "die spanischen Klassiker der Mystik; er studierte sie und durfte sie immer mehr selbst erfahrene" (153). Er hat diese spanischen Mystiker so eingehend studiert, daß er in seinen Briefen" fast wörtlich die Ausführungen des mystischen Kirchenlehrers Johannes vom Kreuz" zitierte (154). P. Pio hat ohne Zweifel nicht bloß zitiert, sondern auch ausgiebig kopiert.

2. Manifestationen

Von frühester Jugend an wurde Francesco Forgione durch Visionen ausgezeichnet. Aber er hatte nicht bloß Schauungen; oft hörte er auch Stimmen aus dem Jenseits, erhielt er "Offenbarungen über sein eigenes Leben, seine Seele und die Seele anderer" (155). Ja noch mehr, er hörte nicht bloß Jesus und Maria sprechen; sie offenbarten sich ihm auch durch wirkliche Erscheinungen. Das begann bereits in seinem Kindesalter. Als er ungefähr fünf Jahre alt war, machte er in seiner Heimatkirche einen Besuch. Plötzlich erblickte er beim Hochaltar Jesus, der ihm zuwinkte und zu erkennen gab, er solle sich zum Altar begeben; dort legte Jesus seine Hände auf den Kopf des Buben und bestätigte durch diese Geste, er "nehme an und bekräftige das Angebot seiner Weihung" (156). Der Himmel" selber, sagt Patri, stellte dem kleinen Francesco "die Gestalt Jesu vor Augen". Eine "innere, vom Geist eingegebene Stimme" sagte zu ihm: "Nimm dir als Maß den menschgewordenen Herrn zum Vorbild!" "Unter dem Himmel von Assisi" hörte Francesco eine "klare Stimme" zu ihm sprechen: "Du wirst wie Franziskus gekreuzigt werden!" Diese Botschaft nahm der Junge "begeistert" auf; "mystischer Weise nagelte er sich selbst ans Kreuz" (157).

Fünf Tage bevor Francesco im Kloster Aufnahme fand, erschien ihm Christus und verhieß ihm, wie bereits früher, seine Hilfe "im Kampf gegen die bösen Feinde" (158). In der letzten Nacht, die Francesco in seinem Elternhaus verbrachte, also am 5. Januar 1903, "kam der Herr und stärkte ihn mit einer Vision". Er sah Jesus und Maria "ganz in ihrer Herrlichkeit". Diese "ermutigten" ihn und versicherten ihm "ihre Vorliebe". Schließlich legte ihm Jesus "eine Hand auf den Kopf" (159) .

P. Raffaele erzählt ein gar wundersames persönliches Erlebnis. Einmal stand er um Mitternacht auf; der dunkle Gang war durch eine Petroleumlampe nur spärlich beleuchtet. Da kehrte P. Pio gerade vom Chor zurück, wo er gebetet hatte. Der Pater war ganz in Licht gehüllt; er trug den Jesusknaben auf den Armen; langsamen Schrittes ging er dahin und murmelte Gebete. Er ging vor Raffaele einher, die ganze Gestalt in strahlendes Licht getaucht, ohne daß er seinen Mitbruder bemerkte (160) - Was hat wohl P. Raffaele zur mitternächtlichen Stunde wirklich gesehen? Vielleicht hat Pio tatsächlich das Jesuskind auf den Armen getragen, das natürlich bloß aus Kunststoff angefertigt war. Bei der Weihnachtsfeier pflegte er die Figur zur Krippe zu tragen. Ein veröffentlichtes Bild zeigt ihn bei dieser Gelegenheit an Weihnachten 1959 (161) . Nicht bloß Pater Pio hat das Jesuskind auf den Armen getragen; das wird von anderen Mystikern auch erzählt. Wahrscheinlich haben sie sich ihr Motiv von dem kitschigen Bild entlehnt, das den hl. Antonius von Padua als lächelnden Jüngling im Franziskanerhabit darstellt, wie er das Jesuskind auf den Armen trägt. Davon hat offenbar Margareta Maria Alacoque die Anregung für eine ihrer "Visionen" erhalten. Während sie ihre Privatexerzitien machte, erschien ihr "die allerseligste Jungfrau mit ihrem süßen Kinde". Maria legte ihr das Kind in die Arme und sprach: "Da sieh ihn, der dich lehren wird, was du tun sollest!" Alacoque erzählt dann: "ich fühlte mich von einem unwiderstehlichen Verlangen gedrängt, das göttliche Kind zu liebkosen, und es ließ mich gewähren, so lange ich wollte, und als ich davon ganz müde geworden war, sagte es zu mir: 'Bist du jetzt zufrieden? Das merke dir für immer; denn ich will, daß du dich mir so hingibst, wie ich mich jetzt dir überlassen habe. Ob ich dich liebkose oder mit Härte behandle, so sollst du keine andere Regung aufkommen lassen, als die ich dir geben werde"' (162). Auch Anna Katharina Emmerick behauptet, daß sie das Jesuskind buchstäblich auf den Armen habe tragen dürfen. Eines Tages trat zu ihr, die schwerkrank im Bette lag, die Mutter Gottes mit dem Jesuskind. Sie gab ihr "ihr Kindlein eine Zeitlang in die Arme", was die Kranke ungemein erquickte (163). Daß auch Therese Neumann von Konnersreuth ähnliche Erlebnisse gehabt haben will, verwundert nicht, da sie ja über Anna Katharina Emmerick sehr eingehend informiert war (164)

Von Zeit zu Zeit wandte sich Jesus zu P. Pio und redete ihn an. Welche bedeutenden Botschaften verkündete ihm da der Herr? Im Jahre 1913 berichtete Pio, Christus sei ihm erschienen und habe also zu ihm gesprochen: "Mein Sohn, unterlaß es nicht, das aufzuschreiben, was du heute aus meinem Munde hörst, damit du es nicht vergaßest. Ich bin treu, keine Seele geht verloren, ohne es zu wissen. Das Licht ist völlig verschieden von der Finsternis. Die Seele, zu der ich zu sprechen pflege, ziehe ich immer an mich; aber der Dämon will sie von mir entfernen. Ich flöße niemals einer Seele Gedanken des Schreckens ein, die sie von mir entfernen; der Dämon jagt der Seele niemals Angst ein, die sie anreizt, sich mir wieder zu nähern. Die Furcht, welche die Seele zu gewissen Lebenszeiten hinsichtlich ihres ewigen Heiles fühlt, dient, wenn sie mich als Ursache hat, dem Frieden und der Heiterkeit der Seele" (165) In Anbetracht dieses naiven Gefasels, das P. Pio als "Ansprache Jesu" ausgibt, könnte man fragen: War der Inhalt wirklich so wertvoll, daß Jesus die Niederschrift befehlen mußte? Hat nicht P. Pio als eine Seele, "zu der Jesus zu sprechen pflegte", mit der Niederschrift der erhaltenen "Botschaft" sich selbst Weihrauch streuen wollen?

Im Jahr 1913 ist Christus dem Pater noch ein weiteres Mal erschienen, wobei er dem Angeredeten in tieftrauriger Stimmung eine tieftraurige Mitteilung machte. P. Pio schreibt: "Am Freitagmorgen befand ich mich im Bett, als mir Jesus erschien. Er war ganz übel zugerichtet und entstellt. Er zeigte mir eine große Menge von Ordens- und Weltpriestern, darunter verschiedene kirchliche Würdenträger. Die einen zelebrierten gerade, die anderen bereiteten sich auf die hl. Messe vor, wieder andere zogen gerade die heiligen Gewänder aus. Jesus so in Ängsten zu sehen, bereitete mir große Qual. Ich wollte ihn deshalb fragen, warum er so leide. Doch bekam ich keine Antwort. Sein Blick richtete sich jedoch auf jene Priester; aber ein wenig später, gleichsam entsetzt und des Schauens müde, zog er seinen Blick zurück und wandte ihn mir zu, was mir großen Schrecken verursachte. Dabei bemerkte ich, wie ihm zwei Tränen über die Wangen rollten. Er entfernte sich von dieser großen Schar der Priester mit einem starken Ausdruck des Mißfallens auf seinem Antlitz und schrie: 'Schlächter!' Dann wandte er sich wieder an mich und sagte: 'Mein Sohn, glaube nicht, daß meine Todesangst nur drei Stunden gedauert hat, nein. Durch diese von mir mit Wohltaten überhäuften Seelen werde ich bis zum Ende der Welt in Todesangst sein. Während der Zeit meiner Todesangst darf man nicht schlafen. Meine Seele geht auf die Suche nach ein paar Tropfen Mitleid; aber ach, sie lassen mich allein unter dem Gewicht der Gleichgültigkeit. Die Undankbarkeit und der Schlaf meiner Diener machen mir die Todesangst noch drückender. Ach, wie schlecht erwidern sie meine Liebe! Was mich noch mehr betrübt, ist, daß sie zu ihrer Gleichgültigkeit noch die Verachtung und den Unglauben hinzufügen. Wieviele Male war ich drauf und dran, sie zusammenzudonnern, wäre ich nicht von den Engeln und von den mich liebenden Seelen zurückgehalten worden" (166) Fürwahr, eine traurige Angelegenheit! Da täglich solche "Schlächter" weiterleben, ohne daß sie Jesus "zusammendonnert", weil er "von den Engeln und den Jesus liebenden Seelen zurückgehalten wird, müßte Jesus demnach andauernd "in Ängsten, übel zugerichtet und entstellt sein", müßte täglich, ja ununterbrochen Tränen vergießen und sich ständig in "Todesangst" befinden. Kann man sich so Christus in göttlicher Herrlichkeit vorstellen?

Es ist eine falsche, ja völlig unsinnige Auffassung, daß Christus bis ans Ende der Zeiten von Qual und Todesangst gepeinigt werden könne. P. Pio hätte doch als Theologe wissen müssen, was keinem Christen unbekannt sein darf, daß Christus nicht mehr leidet. Ebenso töricht ist die Ansicht, Christus brauche die Fürsprache der "Engel und der ihn liebenden Seelen" zur Besänftigung seines Zornes. Die ganze Szene und die Worte, die Christus in den Mund gelegt werden, tragen nicht eine übernatürliche Handschrift; sie entsprangen einzig und allein der Gedankenwelt des Paters Pio. Er mag im Augenblick eines "gehobenen Zustandes" geglaubt haben, Christus zu schauen und zu hören. Der Grundtenor der "visionären Offenbarung" entspricht jedoch ganz seiner depressiven Verstimmung und psychotischen Angst. Er hat seine Emotionen auf die visionäre Figur des Heilandes übertragen. Wenn man dies berücksichtigt, lassen sich die "tieftraurigen Mitteilungen und Tränen" des Heilandes verstehen.

Ähnlich wie das erwähnte lautet ein anderes Klagelied, das P. Pio aus dem Munde des weinenden Jesus anhören mußte: "Mit welcher Undankbarkeit wird von den Menschen meine Liebe heimgezahlt! Ich wäre weniger beleidigt von jenen, wenn ich sie weniger geliebt hätte. Mein Vater will sie nicht mehr ertragen. Ich möchte aufhören, sie zu lieben, aber (und da schwieg Jesus und seufzte, dann fuhr er fort), aber ach, mein Herz ist da zum Lieben. Die feigen und trägen Menschen tun sich keine Gewalt an, um sich in den Versuchungen zu überwinden, sie erfreuen sich sogar in ihren Bosheiten. Die von mir mit Vorzug geliebten Seelen versagen in der Prüfung, die Schwachen überlassen sich der Verwirrung und der Verzweiflung, die Starken erschlaffen nach und nach. ... Sie kümmern sich nicht mehr um das Altarsakrament. Man redet nie von diesem Sakrament der Liebe und auch jene, die davon reden, ach, mit welcher Gleichgültigkeit, mit welcher Kälte! Mein Herz ist vergessen. Niemand kümmert sich um meine Liebe. Ich bin immer betrübt. Mein Haus ist für viele zum Unterhaltungstheater geworden. Auch meine Diener, die ich immer mit besonderer Liebe betrachtet und geliebt habe wie die Pupille meines Auges, sie, die mein Herz voller Bitterkeit trösten müßten, sie, die mir beim Werk der Seelenrettung helfen müßten, wer würde es hingegen glauben, daß ich gerade von ihnen Undankbarkeiten und Unaufmerksamkeiten empfangen muß? Ich sehe, mein Sohn, viele unter ihnen (hier wurde er still, das Schluchzen schnürte ihm die Seele zu, er weinte dann heimlich), die unter heuchlerischem Schein mich verraten durch gotteslästerliche Kommunionen, indem sie die Erleuchtungen und Stärkungen, die ich ihnen fortwährend gebe, mit Füßen treten" (167) - Der Erfinder dieser Szene mit dem weinenden und schluchzenden Jesus ist kein anderer als P. Pio.

Einmal erhielt der Pater folgende "Offenbarung": "Mein Sohn, ich brauche Opfer, um den gerechten Zorn meines Vaters zu besänftigen; erneuere mir die völlige Hingabe deiner selbst und tue das ohne irgendwelchen Vorbehalt!" (168)

Am 25. Mai 1915 ist Italien gegen Deutschland und die Donaumonarchie in den Krieg eingetreten. Einen Monat vorher, am Morgen des 21. April, erschien Jesus dem Pater und sprach: "Italien, meine Tochter, hat nicht die Stimme der Liebe hören wollen, Du weißt inzwischen, daß ich seit geraumer Zeit den Arm meines Vaters zurückhalte, der seine Blitze auf diese ehebrecherische Tochter schleudern will. Man hatte gehofft, daß sie das Unglück anderer hätte in sich gehen lassen, daß sie rechtzeitig ihr Miserere angestimmt hätte. Sie hat nicht einmal diese letzte Frist zu schätzen gewußt und sie ist nun so weit, daß vor mir ihre Sünde noch verabscheuungswürdiger geworden ist. Auch für sie ist sicherlich jenes Los aufbewahrt, das ihren Mitschwestern beschieden ist" (169) - Aus den Worten Pios spricht die Angst vor dem bevorstehenden Kriegseintritt Italiens, mußte er doch damit rechnen, selber zum Militärdienst eingezogen zu werden.

Oft geschah es, daß P. Pio urplötzlich von Ekstasen gleichsam überfallen wurde; ganz unvermittelt war er "abwesend und verklärt". Ganz gleich, wo er sich befindet, es "erfaßt" ihn ganz unerwartet. Eine seiner "geistlichen Töchter" war gerade beim Beichten. Plötzlich unterbrach sie der Pater und sprach: "Sei still!" Es schien, "als ob er lausche". "Sein Gesicht war völlig verändert, schien jedoch nicht tot." Geduldig blieb die Dame knien. "Schließlich, nach einiger Zeit stieß P. Pio einen heftigen Seufzer aus, murmelte einige Worte, beugte sich

zum Türchen des Beichtstuhls und die Beichte nahm ihren Fort gang " (170). Ob er eine Vision hatte oder ob jemand zu ihm gesprochen hat, das hat er nicht verraten.

Derartige "Erscheinungen" haben nicht das geringste mit einem übernatürlichen Ereignis zu tun. Es handelt sich um Dichtungen oder Phantasien, ähnlich wie beim folgenden "Erlebnis" des Francesco Forgione, das er hatte, als er die Volksschule besuchte. Als er einmal, so wird erzählt, auf dem Heimweg das Elternhaus betreten wollte, traf er auf der Schwelle des Hauses einen Mann in Priesterkleidern, der ihn am Weitergehen hinderte. Da erschien plötzlich ein barfüßiges Knäblein und machte das Kreuzzeichen; sofort verschwand der Priester und "Francesco trat heiter in das Haus" (171). Daß so etwas in das Reich der Fabeleien gehört, ist offenkundig. Fraglich bleibt nur, ob P. Pio bereits in seinen Kindheitsjahren wirklich solche Phantasiebilder schaute oder ob sie erst später erfunden wurden, wie es beispielsweise Therese Neumann von Konnersreuth gemacht hat (172)

Im Hinblick auf Visionen, Manifestationen und ähnliche Dinge ist äußerste Vorsicht am Platze. So etwas wird von allen Religionen berichtet; schon allein dies verpflichtet zu kritischer Einstellung. Außerdem muß der Inhalt solcher Schauungen ganz genau durchleuchtet werden. Darauf wird leider nur allzu oft verzichtet. Betrachten wir einmal unter diesem Gesichtspunkt als Beispiel einige "Ansprachen", die Margareta Maria Alacoque (1647-1690) durch Jesus erhalten haben will! In einer Art von Selbstbiographie hat sie die ihr gewährten "Offenbarungen" der Nachwelt überliefert. Im Alter von 25 Jahren hat sich ihr göttlicher Meister" mit ihr "huldreich vermählt". Damals versprach er seiner "Braut". "Sei immer bereit und gefaßt, mich zu empfangen; denn von nun an will ich Wohnung in dir nehmen, um mit dir zu verkehren und zu reden" (173). Am 27. Dezember 1673 erklärte Jesus seiner "vielgeliebten Jüngerin seines Herzens": "Mein göttliches Herz ist von leidenschaftlicher Liebe zu den Menschen und besonders zu dir erfüllt, daß es die Flamme seiner feurigen Liebe nicht länger in sich zu verschließen vermag. Durch seine Vermittlung will ich sie ausströmen und auch den Menschen kundtun, um sie mit den kostbaren Schätzen, die ich dir entdecke, zu bereichern" (174)

In Worten, die Margareta Maria Alacoque Jesus in den Mund legt, spendet sie in Wirklichkeit sich selbst Lob und Dank. Zunächst klagt er über die schlechten und undankbaren Menschen, die "nur Kaltsinn und Zurückweisung" für seinen "Eifer, ihnen ,wohlzutun", übrig hätten; dann fordert er sie auf: "Gib du wenigstens mir Trost, ihren Undank nach Kräften gutzumachen!" Danach fragt sie der Herr: "Meine Tochter, willst du mir wohl dein Herz schenken, um meine leidende, von der Welt verachtete Liebe darin ausruhen zu lassen? Weißt du wohl, warum ich dir meine Gnaden in so überreichem Maße zuteil werden lasse? Es geschieht, um aus dir ein Heiligtum zu machen, in dem das Feuer meiner Liebe ständig brennt. Dein Herz ist wie ein geheiligter Altar, den nichts Unreines berühren darf. Ich habe ihn erwählt, um meinem ewigen Vater darauf Brandopfer darzubringen" (175) .

Als Margareta Maria Alacoque am 31. Dezember 1678 auf Jesu Aufforderung hin ihr "Testament" mit ihrem eigenen Blute unterzeichnet hatte, sprach der Herr: "Ich setze dich zur Erbin meines Herzens und aller seiner Schätze ein, damit du nach deinem Belieben darüber verfügest, und verspreche dir, daß es dir nur dann an Hilfe fehlen wird, wenn es meinem Herzen an Macht gebrechen sollte. Du wirst für immer seine vielgeliebte Jüngerin, der Spielball seines Wohlgefallens und das Brandopfer seines Willens sein. Er wird alle deine Fehler wieder gutmachen und alle deine Verpflichtungen auf sich nehmen" (176). - Es ist ausgeschlossen, daß solche Worte vom Sohne Gottes zu Margareta Maria Alacoque gesprochen worden sind.

Am 30. Mai 1680 will sie die sie auszeichnende Botschaft Jesu vernommen haben: "Liebe Tochter, ich habe mir deine Seele zu einem Himmel voll Ruhe auf dieser Welt erwählt, und dein Herz wird ein Thron der Wonne für meine göttliche Liebe sein" (177). Im Jahr 1681 machte sie trotz eines heftigen Fiebers ihre gewohnten Exerzitien. "Kaum war sie in ihrer Zelle mit Jesus allein, als er ihr erschien. Er fand sie auf der Erde liegend, ganz erstarrt vor Schmerz und Kälte. Unter tausend Liebkosungen hieß er sie aufstehen und sagte ihr: 'Endlich bist du einmal ganz mein und ganz meiner Obhut anvertraut; darum will ich dich denen, die dich meinen Händen krank übergeben haben, gesund zurückgeben"'. Kaum hatte Jesus diese Worte gesprochen, da war sie schon gesund. Dann schildert Margareta Maria wieder, wie sie "mit fortwährenden Gnadenbezeigungen, Liebkosungen und Vertraulichkeiten des lieben Heilandes, der allerseligsten Jungfrau, ihres heiligen Schutzengels und ihres heiligen Vaters Franz von Sales überhäuft wurde" (178)

Bei solchem Liebesgeschwätz kann man doch nicht von tatsächlichen Begebenheiten sprechen; im günstigsten Fall handelt es sich um bloße Halluzinationen; richtiger aber muß man auf zusammenphantasierte Geschichtchen erkennen, an die möglicherweise die Märchenerzählerin selber geglaubt hat. Letzten Endes muß man solche Phänomene als eine Ausdrucksform von Autoerotik bezeichnen.

V. Stigmatisation

1. Wundmale

Das Auftreten von Wundmalen vollzieht sich bei den einzelnen Stigmatisierten in verschiedener Weise. Häufig künden sie sich durch vorausgehende Schmerzen an. Die Lage und die äußere Form weisen fast durchwegs mehr oder minder große Unterschiede auf. Nur selten bleiben sie das ganze Leben Über erhalten; sie verschwinden normalerweise in späteren Lebensjahren wieder spurlos.

Bei P. Pio wurden die Wundmale, wie allgemein angegeben wird, im Jahr 1918 sichtbar. Aber schon Jahre vorher bereiteten ihm unsichtbare Male große Schmerzen. Diese spürte er bereits ungefähr seit dem Sommer 1910, also um die Zeit seiner Priesterweihe. Pios Onkel Orazio behauptete hingegen später, P. Pio habe schon in der Zeit seines Aufenthaltes in Pietrelcina ständig die "unsichtbaren Stigmata" getragen (179). Die, müßte also bereits Ende 1907 oder im Jahr 1908 der Fall gewesen sein. Aber wie konnte Orazio das bezeugen? Zudem steht seine Angabe mit der Aussage aus dem Munde Pios nicht im Einklang. Erstmals hat sich P. Pio selber dazu am 8. September 1911 in einem Brief an P. Benedetto geäußert; er schreibt: "Gestern Abend hat sich etwas ereignet, was ich nicht erklären und begreifen kann. In der Mitte der Handfläche hat sich ein wenig Rot beinahe in der Größe eines Centesimo gezeigt, begleitet von einem starken und heftigen Schmerz in der Mitte dieser kleinen roten Fläche. Dieser Schmerz war empfindlicher inmitten der linken Hand, wo er noch andauert. Auch unter den Füßen spürte ich ein wenig Schmerz. Dieses Phänomen wiederholte sich beinahe ein Jahr hindurch. Aber jetzt hat sich seit längerer Zeit das Phänomen nicht mehr gezeigt" (180). Demnach müßte P. Pio, wie er selber bezeugt, bereits im Jahre 1910 wenigstens in der Handfläche sichtbare Male gehabt haben, die ihm heftige Schmerzen zufügten. Von einem Bluten derselben ist jedoch nicht die Rede. Diese Male erschienen nach einer längeren Zeit wieder am 7. September 1911, und zwar besonders auffällig auf der linken Hand. Sie verschwanden aber "nach einigen Tagen wieder". "Das Phänomen wiederholte sich fast jede Woche bis 1918" (181). Soist zu lesen im Bericht der Patres von San Giovanni Rotond. Ein anderes Bild entwirft P. Pio selber in seinem Brief, den er am 10. Oktober 1915 an P. Benedetto geschrieben hat. Benedetto hatte ihn gefragt, ob er tatsächlich "das unsagbare Geschenk" der Wundmale Jesu erhalten habe. Pio gab die Auskunft: "Darauf muß bejahend geantwortet werden, und das erste Mal, als Jesus es dieser seiner Gunst für würdig erachten wollte, waren sie sichtbar, besonders auf der linken Hand, und da diese Seele angesichts dieses Phänomens sehr erschrocken war, hat sie zum Herrn gebetet, daß er eine solche sichtbare Erscheinung von ihr nehmen möge. Seitdem sind sie nicht mehr erschienen, doch als die Durchbohrungen verschwunden waren, so hörte deshalb der heftige Schmerz nicht auf, der sich besonders unter bestimmten Gegebenheiten und an bestimmten Tagen zu spüren macht" (182). Wir sehen, daß sich die Berichte widersprechen; auch sonst stimmen die Biographien nicht überein. So behaupten einige Autoren, P. Pio habe am 20. September 1915 die "unsichtbaren Wundmale" erhalten und erst 1918 die "sichtbaren". Die unsichtbaren Male sollen sich diesen Autoren zufolge bei Pio im Jahre 1915 in seiner Heimat Pietrelcina gezeigt haben, als er sich krankheitshalber zu Hause aufhielt. Dort verbrachte er viel Zeit in einer Strohhütte, die er sich inmitten des Weinberges nahe einer Ulme eingerichtet hatte. Am 20. September 1915 rief ihn seine Mutter zum Mittagessen. Auf dem Weg zum Elternhaus "rieb er sich langsam die Hände" (18 3) , bzw. er "bewegte die Hände hin und her, als ob er Sich verbrannt hätte" (184) Seine Mutter Giuseppina war heiteren Gemüts und begann zu lachen". "Was hast du denn, Padre Pio? Man möchte sagen, du spielst Gitarre!" Er gab zur Antwort: "Ach nichts, Mama. Kleine stechende Schmerzen ohne Bedeutung" (185). Nach P. Ritzel lautete die Antwort: "Alles andere als Gitarre, Mama!" Mehr habe er den ganzen Tag hindurch nicht gesagt (186). Damals, so liest man allgemein, habe P. Pio die unsichtbaren Wundmale erhalten.

Er selber freilich gab am 10. Oktober 1915 in einem Brief bekannt, daß er nunmehr die "sichtbaren Stigmen" erhalten habe" (187). Er habe jedoch Jesus gebeten, er möge sie unsichtbar machen. Am Abend des 20. September 1915, nach dem Empfang der unsichtbaren Wundmale", veranlaßten die ungeheuer großen Schmerzen P. Pio, alles ganz genau dem Erzpriester von Pietrelcina zu erzählen. Dieser erklärte daraufhin: "Nun, Piuccio, wer weiß, was bald noch alles nachkommt!" Auch Pios betagter Onkel Torre soll bereits "die wunderbaren Dinge" vorausgesehen haben, "die jenem außergewöhnlichen Ereignis folgen sollten" (188) . Wie er überhaupt davon erfahren hat, wird allerdings nicht verraten. Der Pfarrer von Pietrelcina wollte Pio der Schmerzen wegen vom Zelebrieren dispensieren; aber damit war der Pater gar nicht einverstanden. Von da ab las er die hl. Messe "in einem alten, kleinen, verfallenen Kirchlein" (189) .

Von diesen unsichtbaren Stigmen sagt P. Ritzel: "Sie schmerzen, unter der Haut brennt es an Händen und Füßen und an der Seite. Jeder Schritt auf den gepflasterten und geschotterten Straßen bereitet ihm unendlichen Schmerz" (190). In den Berichten ist aber nur die Rede von Schmerzen in den Händen; die Mutter Pios hat offenbar nicht gemerkt, daß ihm etwa auf Grund von Schmerzen das Gehen beschwerlich gefallen wäre. Alle einschlägigen Berichte stützen sich lediglich auf spätere Angaben der Angehörigen des Paters. Lotti schreibt: "Ein Tatsachenbeweis kann hierfür nicht angeführt werden." "Nach der Darstellung seiner Angehörigen" habe sich alles so zugetragen, wie er auf Grund ihrer Erklärungen geschildert habe. Der Angelegenheit habe niemand irgendwelche Bedeutung beigemessen. Erst drei Jahre später habe man sich daran erinnert, "als die Zeichen des Erlösers an seinem Leib sichtbar wurden" (191). Diese müßten jedoch, falls die von Patri in seinem Buch über den Pater gemachte Angabe stimmt, bereits vorher sichtbar gewesen sein; denn Patri schreibt: Nachdem P. Pio im September 1918 plötzlich die Stigmen erhalten hatte, sprach seine Nichte Grazia zur Mutter des Paters: "Giuseppina, ich weiß es schon seit fünf Jahren. Erinnerst du dich noch, als du eines Tages auf dem Feld Pater Pio riefst und es Mittag läutete und er dir entgegenkam und sich die Hände rieb? Da hatte er zum erstenmal die Stigmata an den Füßen, an den Händen und an der Seite, und er sagte es mir noch am gleichen Abend" (192). - Welche Versicherung stimmt?

Dornenkrönung und Geißelung

Am 10. Oktober 1915, also zwanzig Tage nachdem Pio die "unsichtbaren Wundmale" empfangen hatte, verriet er, "seit vielen Jahren" erdulde er beinahe jede Woche die Dornenkrönung und Geißelung" (193). In San Giovanni Rotondo wird ein mit Blut beflecktes Hemd des Paters als "kostbare Reliquie" aufbewahrt (194).

Die sichtbaren Male (20.9.1918)

Sonst liest man in der Regel, daß P. Pio die sichtbaren Wundmale erst am 20. September 1918 erhalten hat. Am Morgen dieses Tages begab sich der Pater nach der hl. Messe zur Danksagung in den Chor der Kirche. "Dort gegen 11 Uhr empfing er die Wundmale. Er lehnte mit der Schulter an der Holzwand, blieb jedoch auf den Knien liegen. So fand ihn der Laienbruder" (195). So berichtet Lotti und erklärt, nur so viel sei amtlich über das Erscheinen der Wundmale bekannt. Jede andere Schilderung des Sachverhaltes sei bloß als mutmaßliche oder willkürliche Erklärung der Tatsachen zu betrachten (196). Wir ziehen aber trotzdem einige andere Berichte heran, zumal ja auch P. Pio selber Aussagen gemacht hat, die man nicht übergehen darf.

Als der Pater über die Entstehung der Wunden gefragt wurde, gab er zur Antwort, sie seien gleichzeitig vorhanden gewesen (197). Aber anderen Aussagen zufolge müßte der Pater zum mindesten die Seitenwunde bereits früher erhalten haben. Am 9. September 1918 berichtete er über all das, was ihm in der ersten Augustwoche widerfahren war, seinem "Seelenführer" P. Benedetto. "Ich hörte am Abend des 5. August unseren Buben Beichte, da wurde ich auf einmal beim Anblick einer himmlischen Persönlichkeit, die sich mir im Tiefsten des Geistes darstellte, mit äußerstem Schrecken erfüllt. Diese hielt in der Hand eine Art Werkzeug, ähnlich einer langen Eisenlanze mit einer gut geschliffenen Spitze, und es schien, daß aus dieser Spitze Feuer hervorkam. All das sehen und beobachten, wie besagte Persönlichkeit das Werkzeug mir mit aller Heftigkeit in die Seele stieß, war eins! ... Mit Mühe brachte ich einen Klagelaut hervor, ich fühlte mich sterben. ... Ich sagte dem Buben, er solle sich zurückziehen, da ich mich nicht wohl fühlte und keine Kraft mehr hatte fortzufahren. Dieses Martyrium dauerte ununterbrochen bis zum Morgen des siebenten. Was ich in diesem so trauervollen Zeitabschnitt litt, ich weiß es nicht zu sagen! Sogar das Innerste sah ich herausgerissen und hinter diesem Werkzeug hergezogen... . Von diesem Tage an bin ich zu Tode verwundet und ich spüre im Innersten meiner Seele eine Wunde, die immer offen ist und mich andauernd schmerzt" (198). Obwohl die "mit einer Lanze bewaffnete Himmelsgestalt" bloß "das Herz" des Paters durchbohrte, verlor er "am ganzen Körper Blut", das "zum Teil aus dem Munde, zum Teil von unten" austrat (199).

Diese "geheimnisvolle Persönlichkeit" erschien dem Pater auch zu anderen Zeiten, vor und nach dem 20. September 1918. Jedesmal war der Besuch mit den grausamsten Schmerzen für den Pater verbunden. Er sagt von der geheimnisvollen Persönlichkeit: "Diese macht mich ganz wund und läßt nicht ab von der harten, rauhen, stechenden und durchdringenden Bearbeitung und trägt eilends dafür Sorge, daß sich die alten Wunden nicht vernarben, sondern daß sich auf diesen neue öffnen und das mit einem unendlichen Schmerz des armen Opfers" (200).

P. Pio hat also die Wundmale nach allgemeiner Annahme am Abend des 20. September 1918 erhalten. Er selber berichtet hierüber seinem Seelenführer Benedetto: "Was soll ich Euch darüber sagen, wenn Ihr mich fragt, wie meine Kreuzigung geschehen sei? Mein Gott! Was für eine Verwirrung und Demütigung empfinde ich, wenn ich mich über all das eröffnen soll, was Du in dieser armseligen Kreatur gewirkt hast. Vergangenen Monat, es war am Morgen des 20. September, befand ich mich nach der Zelebration der hl. Messe im Chor, als ich von der Ruhe, ähnlich wie von einem süßen Schlaf, überrascht wurde. Alle inneren und äußeren Sinne wie auch die Seelenfähigkeiten befanden sich in einer unbeschreiblichen Ruhe. In all dem herrschte ein vollkommenes Stillschweigen um mich her. Dazu kam plötzlich ein großer Friede und eine Hingabebereitschaft zur vollkommenen Entäußerung. ... Und all das geschah in Blitzesschnelle. Und während sich all das verwirklichte, sah ich vor mir eine geheimnisvolle Persönlichkeit, ähnlich jener, die ich am Abend des 5. August sah. Sie unterschied sich einzig darin: von den Wänden, den Füßen und der Seite tropfte Blut. Ihr Anblick erschreckte, und das, was ich in diesem Augenblick fühlte, wüßte ich nicht zu sagen. Ich fühlte mich sterben und wäre gestorben, hätte nicht der Herr eingegriffen und das Herz, das ich aus der Brust springen fühlte, gehalten. Die Schau der Persönlichkeit verschwand, und ich merkte, daß Hände, Füße und Seite durchbohrt waren und Blut herabtropfte. Stellen Sie sich den Schmerz vor, den ich da erfuhr und den ich andauernd fast alle Tage empfinde! Die Herzwunde strömt dauernd Blut aus, besonders von Donnerstagabend bis Samstag" (201). Anfänglich waren die Wunden klein im Verlauf von wenigen Monaten vergrößerten sie sich (202).

Bei der "geheimnisvollen Persönlichkeit" handelt es sich um nichts anderes als eine Schöpfung der Autosuggestion. Solche Dinge findet man in Abwandlungen genauso bei anderen "Mystikern", aus deren Lebensbeschreibungen ja Pio reichlich geschöpft hat. Beispielsweise schildert Margareta Maria Alacoque des öfteren die Qualen, welche sie von ihrem "Bräutigam" zugefügt erhielt. Als sie einmal der "Bräutigam durch die Last seiner Liebe erdrückte", wehrte sie sich dagegen. Der "Bräutigam" aber erklärte ihr: "Laß mich mein Vergnügen haben! Für alles gibt es eine Zeit. Jetzt will ich dich als Spielzeug meiner Liebe, und du mußt so leben ohne Widerstand, meinen Wünschen preisgegeben, und mir erlauben, mich auf deine Kosten zu befriedigen" (203). Kann ein vernünftiger Mensch glauben, daß solche Worte aus dem Munde Christi gekommen sind?

Bevor P. Pio einem Mitmenschen verriet, was mit ihm geschehen war, bemerkte einer seiner Mitbrüder, daß des Paters Hände bluteten. Er sprach ihn an: "Haben Sie sich verwundet?" Barsch antwortete Pio: "Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!" Diesem Mitbruder verriet also Pio nichts; aber er ging sofort zu seinem Guardian und erzählte ihm alles. Dieser geriet ob der Dinge, die er sah, "völlig außer Fassung". "Außer den Wundmalen an den Händen und Füßen hatte P. Pio an der rechten Seite eine tiefe Schnittwunde, die stark blutete. Seine Wäsche und Strümpfe waren hiervon völlig durchtränkt. Und eigenartigerweise gerann das Blut nicht und strömte einen angenehmen Duft aus" (204).

Schmerzen

Wie P. Pio versicherte, haben ihm die Wunden vom ersten Tag an heftigste Schmerzen bereitet. Er schildert dies in seinem Brief vom 17. Oktober 1918 an seinen Seelenführer P. Benedetto: "Mein Vater! Ich sterbe vor Schmerz an dieser Zerreißung und der daraus folgenden Verwirrung, die ich im Tiefsten meines Herzens empfinde. Ich fürchte zu verbluten, wenn der Herr nicht die Seufzer meines armen Herzens erhört und von dieser Operation abläßt. Wird mir Jesus, der so gut ist, diese Gnade schenken? Wird er wenigstens die Verwirrung von mir nehmen, die ich durch diese Leiden erfahre? Laut werde ich meine Stimme zu Ihm erheben und nicht aufhören, Ihn zu beschwören, seine Barmherzigkeit möge mir nicht die Qual und nicht den Schmerz..., wohl aber die Verwirrung nehmen. Die Persönlichkeit, von der ich in meinem vorausgehenden Brief zu sprechen vorhatte, ist keine andere als die, von der ich in einem anderen Brief vom 5. August sprach. Sie setzt ihre Einwirkung pausenlos fort mit einem Höchstmaß von Seelenqual. Ich höre im Innersten ein ständiges Getöse ähnlich einem Wasserfall, der ständig Blut ausströmt. Mein Gott! Gekommen ist Deine Züchtigung und recht ist Dein Gericht. ... Aber laß mich schließlich Barmherzigkeit erfahren!" (205)

Als Dr. Romanelli im Juni und Juli 1919 P. Pio untersuchte, konnte er feststellen, daß "die benachbarten Gewebe auch bei leichtem Druck schmerzempfindlich" waren (206).

P. Pios Ruhm

Die Kunde von dem in San Giovanni Rotondo geschehenen Wunder drang sofort über die Klostermauern hinaus in die weite Welt. Einer der ersten, dem die Kapuziner "die großartige Nachricht von den Stigmata" zukommen ließen, war der Erzpriester von Pietrelcina" (207) . Es dauerte gar nicht lange, schon erschienen Pilger "in Massen". Der "Massenandrang" setzte vor allem seit dem Mai 1919 ein. "Auch hohe Würdenträger scheuten sich nicht, ihn zu besuchen oder sich seinem Gebet zu empfehlen." Zu den ersten "illustren Personen", die ihn besuchten, gehörte Msgr. Bonaventura Ceretti und Kardinal Augusto Siri. Andere kirchliche Würdenträger ließen den Pater von Leuten, die sie mit Empfehlungsschreiben ausgestattet hatten, herzlich grüßen. Dazu gehörte auch der Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri, der in einem Brief vom 19. November 1919 dem Pater einige Personen empfahl und seiner Freude Ausdruck gab, "daß dieser für den Hl. Vater und für ihn bete". Auch Papst Benedikt XV., schreibt P. Ritzel, "war fest überzeugt von der großen Sendung und Aufgabe des Paters Pio" (208).

Dem Pater selbst wird freilich nachgerühmt, er sei an dem ganzen Rummel, der seinetwegen einsetzte, unschuldig gewesen. Er verbarg die Wundmale auf den Händen vor den Leuten durch Handschuhe. Seiner Stigmen wegen brachte er einmal ein ganz großes Opfer. Er mußte sich im Jahre 1925 einer Leistenbruchoperation unterziehen. Der operierende Arzt war Dr. Festa. Weil Pio befürchtete, der Arzt werde seine Wunden untersuchen, lehnte er eine Narkose ab. Während der Operation erlitt er allerdings einen Kollaps; wiederholt wurde er bewußtlos. Während dieser Zeit untersuchte dann der Arzt ohne Wissen des Paters die Stigmen (209). Das Verhalten des Paters überrascht etwas; denn Dr. Festa hatte ja bereits 1919 und 1920 die Wundmale untersuchen dürfen. Was glaubte denn Pio befürchten zu müssen, daß er sich zu solch einem Opfer entschloß?

Übrigens hat sich P. Pio über die erwähnte Operation auch selber geäußert. Während eines im März 1954 stattgefunden Gesprächs mit Dr. Klaus Thoma berichtete er, er habe sich in Foggia ohne Narkose operieren lassen, "da er beim Beten ohne Schmerzen sei" (209a) . Diese Behauptung ist offensichtlich falsch; der Pater hat ja gerade der Schmerzen wegen mehrmals das Bewußtsein verloren. Sicherlich hat Pio ein anspruchsloses Leben geführt. Unverständlich bleibt jedoch, warum er sich ohne Widerspruch regelmäßig die Hände küssen ließ. Dies taten nicht bloß Pilger, sondern auch seine Mitbrüder; sie taten es alltäglich vom Auftreten der Wundmale an bis zu des Paters Lebensende. Pio wehrte nicht ab; er duldete sogar, daß seine Handschuhe hochgehoben wurden damit so unmittelbar die Wundstelle geküßt werden konnte (210).

Beschreibung der Wunden

Etwa neun Monate nachdem Pio die Wundmale erhalten hatte, wurden nach San Giovanni Rotondo drei Ärzte geschickt, damit sie die Stigmen untersuchten; es waren Dr. Romanelli, Dr. Gignami und Dr. Festa. Der erste war Dr. Romanelli, der im Jahre 1919 die Untersuchung vornahm. In einem Gutachten beschreibt er die dabei gewonnenen Eindrücke: "Die Hautwunden sind mit einem rötlich-braunen Häutchen überzogen. Ich bin überzeugt, ja gewiß, daß es keine oberflächlichen Wunden sind; denn wenn ich mit meinen Fingern einen Druck ausübe und beide Seiten meiner Hand in Richtung auf die Wundmale drücke, habe ich ganz genau den Eindruck des Hohlen zwischen meinen Fingern. Die Fußwunden zeigen dieselben Merkmale. Nur ist wegen des größeren Umfangs der Füße hier das Experiment schwieriger auszuführen als an den Händen. Die blutende Seitenwunde zeigt einen Schnitt parallel mit den Rippen von 6 bis 7 1/2 cm Länge. Die Tiefe ist nicht abzuschätzen. Es handelt sich um Arterienblut: die Blutränder erweisen sich als nicht nur oberflächlich" (211). Dr. Romanelli spricht von seinem "Eindruck", als ob sich jeweils zwischen den beiden Handwunden ein "leerer Raum" befunden habe (212). Johannes Maria Höcht sagt sogar, die Wunden Pios seien verhältnismäßig groß gewesen, "so daß man durch sie hindurch beide Daumen und Zeigefinger vereinigen" konnte. Ein Zeuge soll die Wundmale als "so groß" bezeichnet haben, "daß man durch sie ein bedrucktes Blatt lesen konnte " (213). Vielleicht meint Höcht mit dem Zeugen den Provinzial der Kapuziner P. Pietro da Ischitella, der aufgrund der "Gewißheit des empfangenen Eindrucks" seine Aussagen sogar eidlich zu bekräftigen bereit war. Er erklärte: "Wenn man den Blick auf die Wunden der Handfläche Pater Pios von Pietrelcina richte", sei es eine Leichtigkeit, "ein zuvor auf die entgegengesetzte Seite angebrachtes Schriftstück oder einen sonstigen Gegenstand in den Einzelheiten wahrzunehmen" (214). Daß solche "Eindrücke" lediglich die eigene Phantasie wiedergeben, beweist allein schon die Betrachtung der veröffentlichten Bilder, welche die Handwunde Pios genau erkennen lassen. Was Höcht und P. Pietro behaupten, verrät Mangel an einfachen anatomischen Kenntnissen und Verzicht auf kritisches Denken. Die Mittelhandknochen liegen so nahe nebeneinander, daß man selbst bei einer tiefen Wunde über dem Handrücken und auf der gegenüberliegenden Seite, der Handfläche, niemals beim Zugreifen Daumen und Zeigefinger vereinigen kann.

Der zweite Arzt, der im Jahr 1919 P. Pio untersuchte, war Dr. Gignami. Dieser hat, wie berichtet wird, versiegelte Verbände angelegt. Beim Abnehmen der Verbände "erschienen die Wunden nicht vernarbt, sondern lebhaft rot und immer noch blutend" (215). Um die Wunden befand sich damals ein "intensiv gefärbter Hof", wie er sich manchmal um den Mond herum zeigt; dieser entstand dadurch, daß P. Pio die Wundränder mit Jod bestrich (216).

Die "Herzdurchbohrung" fand bereits, wie erwähnt, vor der eigentlichen Stigmatisation statt. In der Zeit zwischen dem 5. und 7. August 1918 "wurde das Herz von einer geheimnisvollen himmlischen Persönlichkeit, die mit einer Lanze ausgerüstet war, durchbohrt" (217).

Aus der Wunde floß reichlich Blut merkwürdigerweise spricht P. Pio auch später von einer mehrmaligen Wiederholung der Herzdurchbohrung. Am 20. Dezember 1918 schrieb er nieder, seit einigen Tagen erneuere sich die "Durchbohrung des Herzens"; eine Lanze drang ihm "von dem unteren Teil des Herzens bis unter die rechte Schulter in schräger Linie"; heftigste Schmerzen waren die Folge (218). Die mehrmalige Wiederholung der Herzdurchbohrung ist allerdings keine Erscheinung, die auf P. Pio beschränkt bleibt. Ähnlich wird auch bei anderen Stigmatisierten berichtet, daß sich ihre "Dornenkrönungen", ihre "Durchbohrungen des Herzens" und die "Bezeichnungen an den Händen" wiederholten, und zwar jedesmal begleitet von feierlichen Visionen (219).

Dr. Festa hat die Wunde auf der Brust im Jahr 1919 so beschrieben: "Die Brustwunde bildete durchaus nicht die Form eines Kreuzes; sie war vielmehr ein glatter Schnitt parallel zu den Rippen, wenn ich mich nicht täusche, 7 oder 8 cm lang.... von nicht abschätzbarer Tiefe und sehr blutig." So wurde die Brustwunde auch von anderen beschrieben; wieder andere Beobachter jedoch, unter ihnen Gignami, haben einen anderen Schnitt vorgefunden und zusätzlich einen schrägen Zweig, der sich mit dem Schnitt kreuzte (220). Höcht weiß noch mehr; er sagt: "Die Herzwunde ist außerordentlich groß (etwa 7 cm lang und 5 cm breit) und hat Kreuzesform. Dabei ist sie so tief, daß sie direkt auf das Herz geht" (221). Aber wie konnte Johannes Maria Höcht dies wissen? Außerdem hat P. Pio seine Wunden kaum beobachten lassen, am allerwenigsten die Herzwunde. Abgesehen davon war Höcht offensichtlich unbekannt, daß jede perforierende Verletzung der Brustkorbwand durch Einströmen von Luft einen Pneumothorax zur Folge hat.

Dem Gutachten Dr. Romanellis entsprechend machte die Herzwunde eine Entwicklung durch. In der ersten Zeit war sie mit einer Membran bedeckt. Später war sie "immer mehr oder weniger eine offene und mehr oder weniger tiefe Wunde, die mit blutigen Krusten bedeckt war, welche P. Pio immer allein in seiner Zelle fast alle zwei oder drei Tage entfernte" (222). Die braune Farbe der Haut und des Seinen Häutchens wurde als Folge von Jod erklärt. Pio selber hat Dr. Gignami gestanden, daß er Jod "ein paarmal in der Woche oder auch öfter" als Desinfektionsmittel verwendet habe (223).

Während Dr. Festa am 10. Oktober 1925 den Pater operierte, hat er dessen Herzwunde untersucht, als der Patient bewußtlos war. Diesmal fand er einen anderen Zustand vor als früher. Er sagt: "Aus Liebe zur Wahrheit und der Genauigkeit wegen muß ich anfügen, daß die dünne Kruste, mit der ich bei der vorausgehenden Prüfung die Wunde bedeckt gefunden habe, welche er auf der linken Brust hat, nun gefallen ist, so daß diese frisch und rot erscheint, in der Form des Kreuzes, und mit kurzen, aber deutlichen hellen Ausstrahlungen, welche aus seinen Umrissen aus strömen" (224).

P. Pellegrino da Sant' Elia sah oft die Handwunde des Paters, und zwar eine Wunde, die "im Mittelpunkt mit Krusten bedeckt war". Er hatte jedoch nur ein einziges Mal Gelegenheit, die Seitenwunde zu betrachten. Sie war 6 oder 7 cm lang und 2 oder 3 cm breit; P. Pellegrino hatte den Eindruck, daß sie sehr tief war; Blut sonderte sie nicht ab (225). Diese Beobachtung fand in späteren Lebensjahren Pios statt. Damals bestand offenbar die Herzwunde nicht mehr in Kreuzesform. Obwohl P. Eusebio, der von 1960 bis 1965 Sekretär des P. Pio war, oft bei diesem weilte, hatte er nur ein einzigesmal zufälligerweise das Glück, die Herzwunde für einen kurzen Augenblick zu betrachten. Er sah ein schräges Kreuz mit einem kleinen waagrechten Zweig; die Wunde war feucht und sonderte Blutwasser ab (226). Gegen 1967 beschrieb P. Alessio die Brustwunde anders. Offenbar bestand sie nicht mehr aus zwei Balken, sondern nur mehr aus einem langen Streifen unterhalb der Brustwarze; in der Mitte derselben erblickte Alessio eine "Naht" (sutura) von derselben Länge (227)

Bluten

Zum erstenmal bluteten die Wunden nach dem persönlichen Zeugnis Pios am Tag der Stigmatisation, also am 20. September 1918. Im Hinblick auf die Handwunden sagt Patri: "Es sind also Wunden, durch die man hindurchgehen kann und aus denen ein so erheblicher Blutstrom hervordringt, daß er bei jedem anderen Individuum den Tod durch Verbluten verursachen würde" (228). Das ist natürlich eine der üblichen Übertreibungen. Bei Therese Neumann von Konnersreuth bluteten für gewöhnlich die Wunden an ganz bestimmten Freitagen. Bei P. Pio war es anders. Bei ihm gab es keine eigentliche Freitagspassion. Er litt vor allem während der hl. Messe, bei der sich die Schmerzen bis zur Wandlung immer mehr steigerten. Dann drang aus den Wunden auch das meiste Blut, das sonst tagsüber "nur leicht nachsickerte. Freilich, Schmerzen hatte der Pater "fast jeden Tag" zu erdulden, "die bei der hl. Messe zweifellos den Höhepunkt fanden" (229).

In den letzten Lebensjahren

P. Guardian Carmelo da San Giovanni in Galdo war in den fünf Jahren vor dem Tod des Paters Pio in San Giovanni Rotondo stationiert. Er hatte ein paarmal Gelegenheit, die Handwunden zu erblicken. Dies geschah, während P. Pio die hl. Messe feierte; während derselben hat ja der Pater keine Handschuhe getragen. Absichtlich hat der Guardian nie auf die Wundmale geschaut, weil, wie er meint, "das Phänomen der Stigmen eine festgestellte Sache war", über die man nicht weiter diskutierte. Er hat also nur die Wundmale erblickt, während P. Pio zelebrierte. Darüber sagt er: "Es war eben bei einer solchen Gelegenheit, daß ich bequem aus der Nähe die stigmatisierten Hände des P. Pio beobachten konnte. Die Hände waren auf dem Rücken und in der Handfläche mit Blutkrusten bedeckt. Dort, wo die Fingerglieder beginnen, befand sich kein Schorf, aber das Fleisch war von violetter Farbe und die Haut dünn und sehr zart, wie sie aussieht, nachdem sich eine Wunde kaum vernarbt hat oder unmittelbar, nachdem der Schorf abgefallen ist. Fast am äußersten Ende der Fingerglieder begann wieder die Haut in ihrem normalen Zustand und der normalen Farbe". Die Wunden selbst hat der Guardian nicht gesehen, weil sie fast völlig mit einer Blutkruste bedeckt waren (230).

In den letzten Lebensjahren verringerte sich der Blutverlust sehr stark (231). Ja, auch die Male selber verschwanden mehr und mehr, bis nach dem Tode des Paters überhaupt nichts mehr zu sehen war. P. Pellegrino sagte als Zeuge am 21. Februar 1969 aus, er habe die Füße des Paters "in den letzten drei Jahren seines Lebens" nur ein einziges Mal gesehen. Es waren aber keine Wundmale mehr vorhanden, sondern nur ein "Bluterguß" zeigte sich an ihrer Stelle. P. Pellegrino versichert: "In den drei letzten Jahren seines Lebens, die ich in seiner Nähe verbrachte, habe ich feststellen können, daß auf den Füßen auch der Bluterguß allmählich verschwunden ist." Aber die Füße zeigten sich außerordentlich schmerzempfindlich; schon eine leichte Berührung genügte, daß P. Pio schmerzerfüllt das Gesicht verzog (232).

Auch die Gläubigen, die in San Giovanni Rotondo der Messe des P. Pio beiwohnten, konnten das allmähliche Verschwinden der Wundmale verfolgen; vor allem "in den vier oder fünf Monaten vor dem 23. September 1968", dem Todestag des Paters, sickerte immer weniger Blut aus den Wunden der Hände. "Alle Gläubigen, die seiner Messe beiwohnten, stellten dieses Phänomen fest und bemerkten auch, daß P. Pio, der sonst immer ängstlich die Male mit seinen Handschuhen zu verbergen suchte, in der letzten Zeit die Hände unbedeckt ließ." Auch die Seitenwunde hat sich im Lauf der Zeit geschlossen; dies konnte man daraus schließen, daß die von Pio verwendeten Tücher immer weniger Blut aufnahmen (233)

Den Guardian des Klosters machten die Leute etwa einen Monat vor dem Tod Pios darauf aufmerksam, daß die Hände des Paters nicht mehr wie früher Wunden und Wundkrusten trugen; der Guardian hat sich jedoch um das Gerede nicht sonderlich gekümmert. Aber dies fiel auch ihm auf: Wenn er P. Pio die Hände küßte, sah er nicht mehr die gewohnten Blutkrusten (234).

Am 22. September 1968 feierte P. Pio zum letztenmal die hl. Messe. Als der Pater in der Sakristei vor dem Gang zum Altar die Halbhandschuhe ablegte, fiel von seiner Hand "ein weißes Häutchen", eine kleine Hautschuppe, ab. Am Tag darauf, als unmittelbar nach dem Tod der entseelte Leib versorgt wurde, löste sich von der linken Hand noch einmal "ein kleines weißes Häutchen, der letzte Rest des vergessenen Blutes". Die beiden Teilchen werden im Archiv von San Giovanni Rotondo aufbewahrt. (235)

Nach dem Tod des Paters

Am 23. September 1968 betrachtete der Guardian Carmelo da San Giovanni in Galdo zusammen mit anderen Zeugen den Leichnam. Er bezeugt: Die Hände waren ganz anders als früher. "Alle Stigmen waren vollständig verschwunden ohne eine Spur von Narben " (236).

Dr. Sala, der nach dem Tod Pios zugegen war sagte am 7. Juli 1969 aus: "Einige Monate vor dem Tod wurden die Füße trocken und jene schorfigen Erhebungen ließen sich nicht mehr ertasten, wie sie früher deutlich festzustellen waren. Die Hände behielten ihre charakteristische Art bis zum Tag vor dem Tod, an welchem sich bei betonter Blässe der Haut eine Verminderung der Bildung von Krusten, die sich abgelöst haben, und ein Verschwinden der Wunden auf dem Handrücken einstellte. Während der ganz kurzen Agonie zeigte die linke Handfläche noch eine schorfige Erhebung, welche nach dem Tode aufbewahrt wurde. Zehn Minuten nach dem Tod wurden die Hände, die Brust und die Füße des Paters Pio unter meiner Unterstützung, wie hervorgeht aus dem Vorhandensein meiner Hände auf den angefertigten Photographien, von einem Bruder in Gegenwart von noch vier anderen Mitbrüdern photographiert. Die Hände, die Füße, die Brust und jeder andere Teil des Körpers zeigten keine Wundreliefs; auch keine Narben waren vorhanden an den Händen und an den Füßen, weder auf dem Rücken noch in der Handfläche oder an den Fußsohlen, auch nicht in der Rippengegend, wo er zu Lebzeiten Wundmale hatte, die gut begrenzt und sichtbar waren. Die Haut an diesen erwähnten Stellen war gleich derjenigen an jedem anderen Teil des Körpers, weich, elastisch, beweglich, und der Druck mit dem Finger zeigte kein Einsinken der Haut oder der Unterhaut oder eine Verschiebung der Knochen oder ein Nachgeben derselben. Das Aussehen, die Farbe, die Konsistenz ließen keine Besonderheiten erkennen, weder ein Vorhandensein von Zeichen vorausgegangener Einschnitte, von Zerreißungen, Verletzungen, Wunden, noch von Entzündungsreaktionen. Schließlich, die Flächen und Rücken der Hände, die Fußrücken und Fußsohlen und die linke Brust hatten eine normale Haut, rein, von durchgehend gleicher Farbe wie der übrige Körper" (237).

In dem Gutachten Dr. Salas findet sich eine unrichtige Angabe, nämlich, daß die Hände ihre charakteristische Art bis zum Tag vor dem Tod beibehalten hätten. Wir haben gesehen, daß sich hier bereits seit einigen Jahren eine Änderung vollzogen hat und daß schließlich die charakteristische Art schon lange vor dem Tode verschwunden war.

Ripabottoni schreibt: "Als nach und nach der entseelte Leib erkältete, verschwanden die Stigmen, die Gewebe rekonstruierten sich rapide und die Haut erschien frisch, zart" (238). Diese Bemerkung ist vollkommen falsch.

Dr. Sala vertritt die Auffassung: "Solche Erscheinungsformen von Wunden, welche P. Pio im Leben hatte und die nach dem Tode verschwunden sind, muß man als ein Faktum betrachten außerhalb jeder Art eines klinischen Befundes und als Tatsache übernatürlichen Charakters". (239) Aber in dieser Weise kann man doch nicht schlußfolgern, ganz abgesehen davon, daß die Wundmale ja gar nicht erst nach dem Tode Pios unsichtbar geworden sind. Ihr allmähliches Verschwinden hat ja bereits Jahre zuvor eingesetzt. So etwas kann man nicht als ein Wunder bezeichnen.

P. Raffaele da Sant' Elia a Pianisi war dabei, als P. Pio starb. Er war auch anwesend, als die Wundmale untersucht wurden. Am 27. September 1968 gab er die Erklärung ab, er habe nach dem Tode des Paters "keine Wunden mit frischem Blut" gesehen wie früher, "sondern nur feuchte Narben, die wie mit einer Messerspitze durchstochen und mit einem weißen Hautfilm überzogen waren" (240) . Die Angabe des P. Raffaele steht offensichtlich im Widerspruch zu den Versicherungen anderer Zeugen.

Das Zurückbilden der Wunden begann also bereits Jahre vor dem Tode Pios; völlig verschwanden sie dann nach und nach in seinen letzten Lebensmonaten. Man steht hier vor einer ganz wichtigen Feststellung. "Jede tiefe Wunde, die das Fleischgewebe verletzt, hinterläßt eine nachweisbare Narbe. Hier fand sich keine Spur davon" (241). Wird bei einer Verletzung nur die oberste Hautschicht (Deckepithel) beschädigt oder durchtrennt, so erfolgt die Heilung ohne Narbenbildung durch einfache Regeneration. Daraus ergibt sich, daß P. Pios Wunden lediglich in der Form einer oberflächlichen Hautläsion bestanden; alle gegenteiligen Behauptungen gehören in das Reich der Phantasie. Die Tatsache also, daß die Stigmata des Paters Pio bis zu seinem Tod ohne Hinterlassung einer Narbe abheilten, kann keinesfalls "als eine Tatsache übernatürlichen Charakters", als Wunder bezeichnet werden. Sie entspricht dem normalen physiologischen Heilungsverlauf einer Verletzung des Deckepithels. Dessen war man sich offenbar im Kloster von San Giovanni Rotondo auch bewußt, als P. Pio gestorben war. Zur Aufbahrung wurden die Füße des Leichnams mit Strümpfen bedeckt, über die Hände wurden Handschuhe gezogen, "um nicht die Leute zu erschrecken mit der Tatsache, daß die Male verschwunden waren, und um einen Skandal bei den Schwachen zu vermeiden" (242)

2. Wohlgeruch

Eine Reihe von Zeugen findet sich für die Behauptung, von P. Pio bzw. von seinen Wunden sei ein intensiver Wohlgeruch ausgeströmt. Dies, so behauptet Maria Winowska, soll bereits am Tag der Stigmatisation, also am 20. September 1918, der Fall gewesen sein; der P. Guardian von San Giovanni Rotondo soll gemerkt haben, wie das aus den Wunden fließende Blut "einen angenehmen Duft" verbreitet habe (243). Über die Art des Geruches gehen die Ansichten auseinander. P. Onorato von San Giovanni Rotondo berichtet am 4. Oktober 1920, er habe, als er die Handschuhe des Paters geküßt habe, einen intensiven Geruch von Rosen wahrgenommen (244) . Als Dr. Romanelli im Juli 1919 sich zum erstenmal in San Giovanni Rotondo aufhielt, fand er die Zelle des Paters mit einem "seltsamen und köstlichen Wohlgeruch" erfüllt. Der Arzt zeigte sich entrüstet, daß der Pater seiner Meinung nach Parfüm verwendete, noch dazu von offensichtlich "teuerer und guter Qualität" (245). Während P. Onorato von intensivem Geruch von Rosen spricht, bezeichnet es Maria Winowska als eine Tatsache, daß dieses Parfüm "nichts ähnelt", obwohl es an eine "ganze Reihe von Gerüchen erinnerte" (246).

Nicht klar war man sich darüber, ob dieser Wohlgeruch allgemein von P. Pio ausging oder ob die Ursache desselben nur allein die Wunden waren. Als Dr. Romanelli seine Verwunderung über das vom Pater verwendete teuere Parfüm zum Ausdruck brachte, stellte der anwesende Kapuziner Valenzano richtig: "Das Blut erfüllt alles mit Wohlgeruch" (247) . Derselben Ansicht ist auch Lotti, der sagt: "Die aus den Wundmalen hervorgehende Blutflüssigkeit hat einen angenehmen und durchdringenden Duft" (248). Ähnlich schreibt Patri den "wohlriechenden Duft" den Wunden des Paters zu (249). Wie P. Raffaele bezeugt, hat man im Chor der Kirche während der Verrichtung des Stundengebetes "bisweilen" einen "ganz eigenen Wohlgeruch" bemerkt, der von den Wundmalen seiner Hände ausgegangen sei. Außerdem habe der Pater den Duft "mehr als einmal" in der Zelle Pios wahrgenommen (250). Vorsichtiger drückt sich Dr. Festa aus, wenn er erklärt, daß der Wohlgeruch "im allgemeinen mehr von der Person Pios als vom Blut ausgehe, das aus den Wunden sickere" (251). Er selber führt aber auch einen Beweis für die Tatsächlichkeit des Wohlgeruches an, der dafür sprechen würde, daß die Ursache desselben im Blut des Paters lag. Als er San Giovanni verließ, nahm er in einem Etui ein Stückchen Linnen mit, das mit Blut durchtränkt war. Im Autobus fingen nach einiger Zeit Mitreisende an zu fragen: "Was riecht denn da so gut? Welch erlesenes Parfüm! Was kann das bloß sein? Das hat ja keinerlei Ähnlichkeit mit irgendetwas Bekanntem." Eine Viertelstunde dauerte das eigenartige Phänomen an. "Dann verschwand plötzlich die seltsame Ausdünstung." In Rom angekommen, verwahrte Dr. Festa das Etui im Schränkchen seines Arbeitszimmers. "Noch in den folgenden Tagen und noch lange Zeit hindurch" verbreitete das verschlossene Leinenstück "einen solchen Wohlgeruch im ganzen Raum", daß viele Leute, die in ärztliche Sprechstunde kamen, "ganz spontan" nach der Ursache fragten (252).

Daß der Grund für den Wohlgeruch nicht im Blut des Paters Pio lag, beweist eine Reihe von Berichten. Der angebliche Duft wurde auch dann wahrgenommen, wenn keine Beziehung zum Blute .Pios bestand, ja selbst über weite Entfernungen hin (253). Im März 1920 starb in Pompilio der Klosterbruder Nicola. "Während der acht Tage seiner Krankheit war die Kammer erfüllt vom Wohlgeruch des Paters Pio, insbesondere in der Nähe des Bettes" (254).

Ein Priester, der sich als "geistlicher Sohn Pios" bekennt, bezeugt: "Ich spürte eines Morgens während der hl. Messe den bekannten Wohlgeruch. Ich achtete nicht darauf. Eine und eine halbe Stunde später, mitten in meiner Arbeit, drängte sich mir derselbe Duft auf und ich fragte mich, was Padre Pio etwa wolle. Gegen Mittag geschah es zum drittenmal und stärker als je. Nun wurde ich unruhig. Nach dem Unterricht ging ich in Gedanken versunken meiner Wohnung zu und, als ein Freund in seinem Auto kam und mich heimbringen wollte, widerstand ich, weil ich lieber allein bleiben wollte. Wenige Minuten später sah ich an einer Straßenkreuzung einen schrecklichen Verkehrsunfall; man rief mich heran und ich konnte einem Schwerverletzten gerade noch die Absolution geben. Da mich der Fall wegen jenes Wohlgeruches interessierte, fragte ich nach der Person des Verunglückten und erfuhr, daß es sich um einen Mann handelte, der seit vielen Jahren der Kirche und den Sakramenten ferngeblieben war, für den aber die Angehörigen schon seit Jahren bei Padre Pio vorstellig wurden, für die Rettung seiner Seele zu beten" (255). Mit welchen "Beweisen" sich nicht Wundersüchtige zufrieden geben!

Zwei jungverheiratete Polen, die in England ansässig waren, befanden sich zur Winterszeit auf der Reise zu P. Pio. In Bern überlegten sie sich, ob sie nicht besser wieder nach England zurückkehren sollten. Da umhüllte sie plötzlich ein "erlesener und starker Duft". Ermuntert setzten sie ihre Reise fort. In San Giovanni Rotondo wurden sie von P. Pio mit offenen Armen empfangen. Der junge Mann, der italienisch zu sprechen verstand, begann das Gespräch mit den Worten: "Wir haben Ihnen geschrieben, Padre; da Sie jedoch nicht geantwortet haben... ." Weiter kam der junge Mann nicht, da ihn der Pater unterbrach: "Was, ich habe nicht geantwortet? Und neulich abends in der Schweizer Herberge, haben Sie da nichts gerochen?" Und "mit einigen Worten löste der Pater die Schwierigkeiten seiner Besucher " (256).

Hier wie in dem folgenden Fall erklärt P. Pio selber, daß er es war, der den angenehmen Duft in die Ferne aussandte und daß dies mit seinem Wissen und Willen geschah. Maria Winowska schreibt, "in manchen Fällen" hätten "diese Düfte" in tödlicher Gefahr Rettung gebracht. Zum Beleg hierfür führt sie einen Fall an: Eines Tages las in der Umgebung von San Giovanni Rotondo ein armes, altes Weib auf einem Steilhang rückwärts gehend Kastanien auf. Plötzlich veranlaßte köstlicher Duft" die alte Frau, ihren Kopf zu erheben, und schon schrie sie auf: "Madonna mia!" Noch ein Schritt, und sie wäre in den Abgrund gestürzt. Als P. Pio die Gerettete wieder einmal traf, schimpfte er sie aus: "Du wirst Dir abgewöhnen, rückwärts zu gehen" (257).

Zuerst hat man offenbar als Ursache des Wohlgeruches, wenigstens in der Hauptsache, die Wunden des Paters angesehen. Aber es gab auch genug Zeugen, deren Erlebnisse beweisen, daß nicht bloß die Wunden schuld waren. In diesem Sinne behauptet Maria Winowska, die Frauen von San Giovanni Rotondo hätten sich förmlich darum gerissen, die Klosterwäsche waschen zu dürfen; sie sagten: "Alles, was P. Pio anrührt, riecht so gut, daß sogar das übrige vom Wohlgeruch erfüllt wird" (258). Also nicht bloß die Wäsche des Paters roch so angenehm, sondern alles, was er anrührte. So erlebte einmal ein erkrankter Pfarrer dieses "Wunder" mit Hilfe eines Andachtsbildchens. Dem bettlägerigen Pfarrer sandte Prof. Giovanni Crippa ein Bildchen, das P. Pio gesegnet hatte. Als der Kranke den Brief öffnete, ward das Krankenzimmer mit "himmlischem Wohlgeruch" erfüllt (259). Als Dr. Romanelli erstmals den Duft wahrnahm, hatte er nicht den Eindruck von "himmlischem Wohlgeruch"; er dachte lediglich an Parfüm von "guter Qualität" (260) . Dr. Festa selber hat nie den Duft gemerkt; denn er besaß nach eigener Aussage keinen Geruchssinn (261).

Patri behauptet: "Dieser wohlriechende Duft wird fast von allen, die in seine Nähe kommen, klar und deutlich wahrgenommen" (262). Dies stimmt jedoch bei weitem nicht. Eine bestimmte Regel, wann der Wohlgeruch wahrgenommen wurde, gibt es offenbar nicht. Auch wurde durchaus nicht jedermann gewürdigt. Außerdem läßt sich oftmals kein sinnvoller Zusammenhang erkennen. Als Dr. Romanelli im Juni 1919 zum erstenmal die Zelle des Paters Pio betrat, fand er sie mit einem "seltsamen und köstlichen Wohlgeruch" erfüllt. Er verließ die Zelle, kehrte aber alsbald wieder zurück, konnte jedoch nunmehr zu seiner großen Überraschung nichts mehr wahrnehmen, er mochte schnuppern, so viel er wollte. "Zwei Tage lang lief der Doktor schnuppernd wie ein Hund herum", ohne Erfolg. Bevor er abreiste, ging er, in Gedanken versunken, die Treppe des Klosters hinauf. "Plötzlich umhüllte ihn das gleiche Parfüm mit einem heftigen Duftstoß. Dies dauerte nur einige Sekunden" (263). Ebenfalls von ganz kurzer Dauer hatten einige Mitbrüder Pios den Eindruck eines angenehmen Duftes, als sich des Abends die klösterliche Gemeinschaft vom Refektorium zum Chor begab. Plötzlich merkten die dem Pater folgenden Mitbrüder den Wohlgeruch, der den ganzen Gang erfüllte. Dies währte jedoch nur einige Sekunden. Auch P. Raffaele berichtet von einem ähnlichen Erlebnis, das "einige Sekunden" gedauert habe (264) . Der Mitbruder Pios, P. Agostino, merkte nur besonders scharfe Düfte, weil sein Geruchssinn sehr schwach war. Trotzdem will er einige Male den Wohlgeruch wahrgenommen haben (265) . Das Wunder wäre freilich noch größer gewesen, wenn auch des Geruchssinnes Beraubte das angenehme Erlebnis gehabt hätten.

Schon Dr. Festa konnte feststellen, daß nur ein Teil seiner Patienten den von dem blutigen Leinenflecken ausgehenden Duft wahrnahm (266). Dabei muß bemerkt werden, daß nicht etwa nur fromme Seelen das "Wunder" erleben durften. So sagt Maria Winowska zu ihrer eigenen inneren Beruhigung, es sei ihr versichert worden, die Empfänglichkeit für solche Gerüche sei keine Gewähr für ein gutes Gewissen. Maria Winowska hatte nämlich selber kein Glück; zu ihrem Bedauern hat sie trotz ihres feinen Geruchssinnes nie etwas "Außergewöhnliches" gerochen. Sie sprach darüber mit einem Pater. Dieser gab "mit einem spitzbübischen Lächeln" zur Antwort: "Da kann man nichts machen. Da droben ist man sparsam und wirft nicht gerne mit den Gnadengaben um sich." Übrigens, auch die Nase dieses "spitzbübischen Paters" wird als "widerspenstig" bezeichnet, weil sie auch nie etwas Außergewöhnliches wahrnahm 267) . Dies war ebenfalls der Fall bei Don Giovanni Rossi. Er erzählt: "Viele behaupten, einen Wohlgeruch gemerkt zu haben, der von seiner Person ausging. Ich hatte dieses Glück nicht" (268).

Maria Winowska führt übrigens einen Parallelfall zu P. Pio an. Sie sagt: "P. Pios Parfüms erinnern in eigenartiger Weise an die ehrwürdige Benote Reneurel von Le Laus. Zu ihren Lebzeiten alarmierte sie auf diese Weise die großen Sünder. Seit ihrem Tod vor bald dreihundert Jahren dauert das schöne Wunder fort." Ihr selber habe der zuständige Pater Rektor erklärt: "Wir stellen nie Blumen auf die Altäre der Kirche, damit keine Verwechslung vorkommt" (269). Maria Winowska stellt die Sache so dar, als ob es sich bei dem "schönen Wunder" um eine alltägliche Erscheinung handle. Wie liegen die Dinge in Wirklichkeit? Eines Tages soll die Mutter Gottes zu Benote Reneurel gesprochen haben. "Geh nach Le Laus! ... Du wirst eine kleine Kapelle entdecken; ... angenehme Düfte werden dir vorausgehen...; diese Wohlgerüche werden im Lauf der Jahrhunderte das Vorrecht bestimmter Personen sein." Nur selten hatte jemand das Glück, das angenehme "Wunder" zu erleben. Am 16. Juni 1976 erwiderte auf eine Anfrage hin ein Pater des Missionshauses in Le Laus: "Ich kenne persönlich eine gewisse Anzahl von Personen, die dieses Privileg erhalten haben." Obwohl ihnen von dem eigenartigen Phänomen überhaupt nichts bekannt gewesen sei, hätten sie plötzlich überrascht ausgerufen: "Wie riecht es gut in dieser Kirche!" Die eigenartige Erscheinung sei noch nie näher untersucht worden; das Phänomen werde lediglich jedesmal, wenn es sich zeige, registriert. "Das ist alles", so schreibt der Pater des Missionshauses.

Bei derart läppischen Dingen kann nur von einem Wunder sprechen, wer an Wundersucht leidet. Dieses Urteil gilt in gleicher Weise für das dem Pater Pio zugeschriebene Phänomen. Hier geht der Anfang des "himmlischen Duftes" ohne Zweifel auf P. Pio unmittelbar zurück. Am 5. Februar 1939 wurde der Benediktinerabt Laurentius Zeller in St. Matthias zu Trier zum Bischof geweiht. Beim Besuch des Trierer Redemptoristenklosters berichtete er in Gegenwart mehrerer Zeugen dem P. Norbert Brühl, Kardinal Schuster von Mailand habe ihm persönlich erzählt, "P. Pio habe Chemikalien benutzt, um die Wundmale und den Duft zu erzeugen; man habe auch die Drogerie festgestellt, woher P. Pio die Chemikalien bezogen hat" (270). P. Pio hat sich tatsächlich, wenigstens in den ersten Jahren nach seiner Stigmatisation, Chemikalien besorgt. So schreibt Dr. Festa: "P. Pio hat zeitweilig Jodtinktur und eine konzentrierte Karbolsäurelösung verwendet." Dr. Festa fügt seiner Angabe freilich noch hinzu, P. Pio habe den Wohlgeruch auch dann noch ausgeströmt, nachdem er die Lösung nicht mehr verwendet habe (271). Wie weit dies zutrifft, läßt sich nicht leicht nachweisen.

Selbst wenn P. Pio später nie mehr irgendwelche Chemikalien verwendet hätte, so bereitet die Erklärung des "Phänomens" doch keinerlei Schwierigkeiten. Wir wissen ja, was Suggestion zu wirken imstande ist. Sobald einmal das Gerede von den "himmlischen Düften" auftauchte, wuchs die Zahl derer, die dieses "Wunder" konstatierten. In diesem Zusammenhang könnte man von einem lehrreichen Parallelfall sprechen, was W. Schrödter in dem Buch "Vom Hundertsten ins Tausendste" berichtet: "Der amerikanische Professor Slossen machte einmal ein neues Experiment, um seinen Schülern die Macht der Einbildungskraft vorzuführen. Er brachte eine mit destilliertem Wasser gefüllte und wohlverschlossene Flasche auf seinen Versuchstisch und erklärte, feststellen zu wollen, wie schnell der Geruch der darin enthaltenen Flüssigkeit sich im Hörraum verbreiten würde. Er bat die Zuhörer, die Hand zu erheben, sobald der Geruch sich bis zu ihrem Platz verbreitet haben würde, entkorkte die Flasche und goß etwas von dem darin enthaltenen Wasser auf ein Stück Watte, indem er das Gesicht abwandte, als ob er einen heftigen Geruch vermeiden wollte, zog die Uhr und wartete einige Sekunden. In der Pause erklärte er, sicher zu sein, daß kein Anwesender bisher den Duft der zu dem Versuche benutzten Lösung kenne; aber wenn er auch stark sei, so hoffe er doch, daß er niemand lästig fallen würde. Nach fünfzehn Sekunden hatte die Mehrzahl der seinem Platz näherstehenden Zuhörer die Hand erhoben, nach vierzig Sekunden hatte sich der Duft zu den entferntesten Plätzen verbreitet, ungefähr Dreiviertel der Zuhörer spürte den Geruch und nur eine Minderzahl, in der die Männer vorherrschten, bestand darauf, nichts wahrzunehmen. Die Zahl der Personen, welche der Suggestion unterlagen, würde ohne Zweifel noch zugenommen haben, wenn Slossen sich nicht genötigt gesehen hätte, den Versuch vorzeitig abzubrechen, da einige Zuhörer der vordersten Reihe sich unangenehm belästigt fühlten und den Saal verlassen wollten" (272). Genauso verhielt es sich bei den "himmlischen Düften" in der Umgebung des Paters Pio. Zum einen Teil war der Wohlgeruch die Folge der vom Pater verwendeten Chemikalien; zum anderen Teil existierte er nur in der Einbildung bestimmter Menschen. Handelte es sich um unerklärbare Dinge, dann müßte ein ganz außerordentliches Wirken Gottes vorliegen. Was für ein Gott müßte das sein, der solche läppischen Wunder wirkte, noch dazu ohne einen tieferen Sinn? Warum merkten die einen Patienten Dr. Festas etwas, warum die anderen nicht? Warum empfand der eine Pater den angenehmen Duft, der andere aber nicht?

3. Ärztliche Untersuchung

Im Februar 1919 beauftragte der Provinzial der Kapuziner den Prof. Dr. Luigi Romanelli, die Stigmen des P. Pio zu untersuchen. Am 16. Mai 1919 fand der erste Besuch in San Giovanni Rotondo statt. Am 26. Juli desselben Jahres wurde Prof. Dr. Amigo Gignami aus Rom zugezogen. Romanelli hat den Pater in fünfzehn Monaten fünfmal untersucht. Danach lieferte er seinen Bericht ab. Darin heißt es: "Die Läsionen, die P. Pio an den Händen hat, sind von einem leichten Häutchen rötlicher Farbe bedeckt. Es sind weder blutige Punkte noch eine Schwellung oder Entzündungsreaktion der Gewebe vorhanden. Ich bin überzeugt., ja gewiß, daß diese Wunden nicht oberflächlich sind. Als ich sie mit meinen Fingern drückte, spürte ich eine Leere, die die Stärke der ganzen Hand durchquert. Ich habe nicht feststellen können, ob meine Finger bei stärkerem Druck zusammengekommen wären; denn dieser Versuch ruft, wie jeder Druck, beim Patienten heftige Schmerzen hervor. Dennoch habe ich ihn wiederholt morgens und abends dieser harten Prüfung unterworfen, und ich muß einräumen, daß ich jedesmal die gleiche Feststellung gemacht habe. Die Läsionen an den Füßen zeigen die gleichen Merkmale wie die an den Händen. Wegen der Stärke des Fußes konnte ich jedoch nicht den gleichen Versuch anstellen wie an den Händen. Die Seitenwunde ist eine glatte Schnittwunde, parallel zu den Rippen, von sieben bis acht Zentimeter Länge, weiche Gewebe durchschneidend, von schwierig festzustellender Tiefe und reichlich blutend. Dieses Blut hatte alle Merkmale arteriellen Blutes, und die Lippen der Wunden zeigen, daß sie nicht oberflächlich sind. Die Gewebe, die die Läsion umgeben, zeigen keinerlei entzündliche Reaktion und schmerzen beim leisesten Druck. Ich habe P. Pio in fünfzehn Monaten fünfmal untersucht. Obwohl ich einige Modifikationen feststellte, konnte ich keine klinische Formel finden, die mir gestattet, diese Wunden zu klassifizieren" (273).

Dr. Gignami, heißt es, versah die Wunden des Paters mit "gründlichen" Verbänden. Aber die "seltsamen Läsionen" dauerten fort, "ohne sich zu infizieren und ohne die geringste Eiterung" (274)

Im Jahr 1919 erhielt ein dritter Arzt den Auftrag, die Wunden Pios zu untersuchen. Es war Dr. Giorgio Festa, der am 9. Oktober 1919 in San Giovanni Rotondo eintraf. Sein Urteil lautete: "Diese Art von Läsionen" entziehe sich der Wissenschaft. "Sein verständnisvoller und objektiver Bericht", sagt Maria Winowska, "trug mit dazu bei, die Voreingenommenheit mancher Kreise im Vatikan und der Oberen P. Pios zu zerstreuen. Schließlich ließ man ihn in Frieden" (275) - Wenn überhaupt, so stimmt dies höchstens bis Anfang 1923, als die ersten Schritte gegen sein bisheriges Wirken unternommen wurden.

Drei Ärzte hatten also in den Jahren 1919 und 1920 die Erlaubnis erhalten, P. Pios Wunden zu untersuchen. Den bekannten Arzt und Theologen P. Dr. Agostino Gemelli O.F.M. hat man bei seinem Besuch vom 18. bis zum 20. April 1920 keine Untersuchung gestattet. Zweieinhalb Monate später war jedoch Dr. Giorgio Festa wieder in San Giovanni Rotondo ein gern gesehener Gast, der des Paters Wunden ungehindert untersuchen durfte.

4. Dr. Festas Kritiklosigkeit

Dr. Giorgio Festa war einer der Ärzte, die sich entschieden für die Echtheit und Übernatürlichkeit der Wundmale des Paters Pio aussprachen. Er hat im Oktober 1919 und im Juli 1920 den Pater aufgesucht; er war es auch, der im Oktober 1925 bei P. Pio eine Leistenbruchoperation vorgenommen hat. Festas Argumente stehen in ihren Folgerungen wiederholt auf wackeligen Füßen. Dies gilt auch, wenn er seine Ansicht durch Hinweise auf Beispiele stützen will, die vollkommen fehl am Platze sind. Merkwürdigerweise glaubt er sogar, bei der Dornenkrönung Jesu seien lange Dornen durch den Schädelknochen hindurch eingedrungen und hätten "Gehirnsubstanz" verletzt. Dabei beruft er sich auf die Ordensschwester Maria von Jesus zu Agreda, aus deren "Visionen" er sein Argument entnimmt. Diese Schwester lebte im 17. Jahrhundert. Ihre "Offenbarungen" schrieb sie selber nieder. Für diese gilt das gleiche wie etwa für die Visionen der Therese Neumann von Konnersreuth, nämlich: Halluzinationen oder Phantastereien. Die genannte Schwester Maria hat über die Dornenkrönung Jesu gesagt, die Dornen hätten "den Schädelknochen durchbohrt", sie hätten auch die Ohren und Augen verletzt; Jesus habe die Dornenkrönung nur deshalb überlebt, "weil er auch Gott war" (276). Diese Angaben übernimmt Dr. Festa kritiklos. Zum anderen verweist er auf die stigmatisierte Louise Lateau (1850-1883), die mehr als zweihundert Ärzte und über zweihundert Theologen beobachtet hätten. Als Hauptzeugen führt er an Dr. Lefebvre, der von den beobachteten "Phänomenen" derart beeindruckt gewesen sei, daß er erklärte, man könne sie unmöglich wissenschaftlich erklären (277) . Diese Auffassung hat Dr. Lefebvre tatsächlich vertreten. Aber als er sein Urteil veröffentlichte, wußte er noch nicht, daß Louise Lateau eine Betrügerin war. Sie, die angeblich nahrungslos Lebende, wurde von ihrem Beichtvater in flagranti ertappt, "wie sie in betrügerischer Weise Stigmen und eine Ekstase hervorrief; ferner entdeckte Dr. Warlomont nach Louises Verschwinden Früchte, Wasser und Weißbrot in ihrem Schrank, womit die Ausdauer bei dem verlängerten Fasten eine natürliche Erklärung fand" (278) Der Gedanke, daß die Wundmale einer solchen stigmatisierten Person übernatürlich bewirkt seien, muß von vornherein ausscheiden. Dr. Lefebvre hat Louise Lateau achtzehn Monate hindurch immer wieder beobachtet und untersucht. Er war längere Zeit, wie erwähnt, von der Übernatürlichkeit der Stigmen und Visionen ohne Einschränkung überzeugt. Aber er hat sein Buch über die Stigmatisierte später aus dem Buchhandel zurückgezogen und die Exemplare, die noch im Umlauf waren, gegen jeden Preis zurückgekauft (279) . Dieses Verhalten sagt alles. Davon wußte wohl Dr. Festa nichts; sonst hätte er auf den Gedanken kommen müssen, daß nicht bloß ein Dr. Lefebvre, Professor für Pathologie und Psychologie, sich täuschen konnte.

5. Dr. Gemelli

Es ist bekannt geworden, daß der Theologe und Arzt Dr. Gemelli Über P. Pio ein äußerst negatives Urteil abgegeben hat. Aber immer wieder ist zu lesen, Gemelli habe den stigmatisierten Kapuziner gar nicht untersucht. Wir wollen dieser Frage einmal näher nachgehen, soweit dies unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Im Jahr 1933 hat Dr. Gemelli dem bekannten Pariser Nervenarzt Prof. Jean Lhermitte während eines Kongresses im Kloster Avon anvertraut, "er habe schon an die dreißig weibliche Stigmatisierte untersuchen müssen und in jedem Falle ein einfaches Verfahren gewählt. Um die berechtigte Empfindlichkeit nicht zu verletzen, bat er sie, nicht eine Klinik, sondern ein Kloster aufzusuchen, wo die Bewachung unter seiner Aufsicht erfolgen konnte. Die Glieder, an denen die Male auftraten, umgab er mit einem versiegelten Gipsverband, der wieder entfernt wurde, wenn man der Meinung war, daß die Zeit für die Vernarbung ausreichte. In allen Fällen war nun aber das Ergebnis dasselbe. Die verschorften Blutkrusten hatten sich abgelöst, und an die Stelle des Wundmals war eine rosa Epidermis getreten, welche die Regeneration anzeigte" (280)

Wenn Dr. Gemelli so viele Stigmatisierte aufsuchten konnte, dann beweist dies, daß es deren gar nicht so wenige gibt; man hört nur von ihnen nichts, weil die Unechtheit ihrer Wundmale offenbar klar liegt. Uns beschäftigt nun die Frage: Hat Dr. Gemelli P. Pio tatsächlich untersucht? Von den Verehrern des Paters wird dies ja immer wieder geleugnet, obwohl doch bereits die Tatsache, daß er etwa dreißig Stigmatisierte untersucht hat, erwarten läßt, daß er nicht ausgerechnet P. Pio übergangen hat; wenn er sich ein paarmal nach Konnersreuth begeben hat, dann wird er nicht den Stigmatisierten seines Heimatlandes unbeachtet gelassen haben. Gemelli, der ja nicht nur Mediziner, sondern auch Theologe war, hat, wie er versichert, jedesmal in höherem Auftrag gehandelt. Warum sollte es denn im Fall P. Pios anders gewesen sein?

Nicht bestritten wird, daß Dr. Gemelli am 18. April 1920 in San Giovanni Rotondo erschienen und bis zum 20. April geblieben ist. Er kam in Begleitung von Fräulein Armida Barelli, der Generalpräsidentin der weiblichen katholischen Jugend in Italien; sie war auch Mitglied des Verwaltungsrates der Mailänder Universität, an der Dr. Gemelli einen Lehrstuhl innehatte. Dr. Gemelli soll aber in San Giovanni Rotondo keine Erlaubnis erhalten haben, die Wundmale des Paters zu untersuchen, weil er keine ausdrückliche Genehmigung der höheren kirchlichen Autorität habe vorweisen können (281).

Es kann nicht bezweifelt werden, daß Dr. Gemelli bei seinem Aufenthalt im April 1920 in San Giovanni Rotondo keine Erlaubnis erhalten hat, P. Pio zu untersuchen. Die Begründung für die Verweigerung stimmt eigenartig, wenn man bedenkt, daß doch der Pater von einigen Ärzten ohne weiteres untersucht werden durfte. Der Verdacht drängt sich auf, daß man das Urteil des Dr. Gemelli, der als Theologe und Arzt Fachmann war, fürchtete. Schließlich wird in San Giovanni Rotondo auch bekannt gewesen sein, daß ihm das Phänomen der Stigmatisation nichts Unbekanntes war.

Im Oktober 1924 hat Dr. Gemelli einen Artikel über das Stigmatisationsproblem veröffentlicht; darin bezeichnete er den hl. Franziskus als den einzigen wirklich Stigmatisierten; die Echtheit der Wundmale bei der hl. Katharina von Siena ließ er offen. Bei den anderen stigmatisierten Personen, wenn auch nicht bei allen, so doch bei sehr vielen, so erklärt er, seien die Wunden lediglich eine Folge hysterischer Veranlagung (282). Dieses Urteil hatte offensichtlich in erster Linie P. Pio im Auge, dessen Name in jener Zeit in aller Munde war. Aber worauf gründet sich Gemellis Urteil? Gehört P. Pio zu den von ihm untersuchten Stigmatisierten?

Über den Besuch Gemellis im April 1920 berichtet der damals in San Giovanni Rotondo weilende Kapuzinerpater Benedetto da San Marco in Lamis als Augenzeuge. Dr. Gemelli, der in den Jahren 1919 und 1920 Rektor der Mailänder Universität war, schrieb an den Provinzial der Kapuziner P. Pietro, er wolle San Giovanni Rotondo besuchen. Der Provinzial antwortete, falls Gemelli als Wissenschaftler zu kommen beabsichtige, um P. Pio zu "beobachten", müsse er sich in Rom die Erlaubnis der kirchlichen Obrigkeit verschaffen, weil Pio einen Widerwillen habe, sich derartigen Konsultationen und Beobachtungen auszusetzen. Gemelli antwortete auf einer Postkarte, er komme bloß aus privaten und geistlichen Gründen. Er traf in Begleitung von Fräulein Armida Barelli am Abend des 18. April in San Giovanni Rotondo ein, ohne daß er ausdrücklich den Wunsch äußerte, P. Pio beobachten zu dürfen. Am Tag darauf hatte Armida Barelli eine Unterredung mit P. Pio; dabei drehte sich das Gespräch nur um allgemeine Fragen. Am übernächsten Tag begann Armida Barelli P. Benedetto zu bitten, er möge Dr. Gemelli gestatten, P. Pio zu beobachten. Benedetto lehnte ab. Er erklärte, der Provinzial habe ihm ausdrücklich gesagt, P. Pio dürfe "zu jener beschwerlichen Demütigung nicht gezwungen werden"; Gemelli habe sich keine Erlaubnis beschafft; außerdem habe er vorher ja selber erklärt, keine Untersuchung zu beabsichtigen. Alle inständigen Bitten von Armida Barelli blieben erfolglos. P. Benedetto brachte unter anderem vor, er könne die Notwendigkeit einer augenscheinlichen Untersuchung nicht begreifen, da ja "genaue Berichte von anderen Doktoren" vorlägen. Da also nichts zu machen war, bat Dr. Gemelli um eine Unterredung mit P. Pio. Diese fand auch statt, jedoch lediglich in der Sakristei; sie dauerte nur wenige Minuten. P. Benedetto hatte den Eindruck, daß P. Pio beim Abschied Gemellis gequält dreinblickte. So lautet der Bericht des P. Benedetto da San Marco in Lamis, wie er ihn am 16. Juli 1932 abgefaßt hat (283).

Diesem Bericht zufolge gewinnt man den Eindruck, Dr. Gemelli habe überhaupt nie eine Gelegenheit gehabt, P. Pio zu beobachten und zu untersuchen. Aber das stimmt nicht. Vielmehr wurde auf "Umwegen" folgendes bekannt: Am 6. Juni 1952 erschien in der englischen Zeitschrift "The Month" ein Artikel, in dem auch P. Gemelli eine Rolle spielte. Daraufhin nahm dieser mit P. Martindale, dem Verfasser jenes Artikels, Verbindung auf, um einige falsche Darstellungen richtigzustellen. In einem Brief an P. Martindale schreibt Gemelli unter anderem: "Ich bin von der kirchlichen Behörde - es ist nicht nötig, sie zu nennen - beauftragt worden, eine Untersuchung vorzunehmen. Ich habe dieser Behörde mehr als einmal einen Bericht übergeben. Diese kirchliche Behörde wie auch ich sind gebunden durch das Geheimnis; deshalb weiß niemand, was ich geschrieben habe, ausgenommen die Mitglieder jener Behörde. Darum sind die Meinungen, welche man mir zuschreiben will, nicht auf wirkliche Informationen gegründet. Ich habe über P. Pio bei meiner Unterredung mit Dr. Festa keine Erklärung abgegeben. Das war ganz natürlich, weil mich gebunden hat und noch bindet das Geheimnis. Ich habe ihm bloß gesagt, daß ich P. Pio untersucht habe. Die Meinung, von der Dr. Festa spricht, habe ich nie ausgesprochen, auch nicht niedergeschrieben. Das ist die Wahrheit. Seinerzeit habe ich mich über Dr. Festa beklagt und habe die vorgesetzten Behörden informiert über die Ungerechtigkeit der Behauptungen des Dr. Festa, des Argentieri und von anderen. ... Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie seine falschen Informationen richtigstellen wollten, weil es unrecht ist, mich in dieser Weise vorzustellen " (284). So schreibt Dr. Gemelli am 20. Juni 1952 an P. Martindale. Dieser antwortete am 5. Juli 1952. In einem Dankschreiben des Dr. Gemelli heißt es unter anderem: "Worauf es ankommt, ist die Frage P. Pio von Pietrelcina." Ausdrücklich betont Gemelli: "Ich habe P. Pio und seine Stigmen genau untersucht. Während dieser Untersuchung war der P. Provinzial anwesend." Weiterhin versichert Gemelli, er könne sich nicht

mehr daran erinnern, was er damals etwa dem Provinzial gegenüber gesagt habe. Über P. Pio habe er sonst bei keiner Gelegenheit gesprochen; er habe auch seine Ansicht über den Pater niemand kundgemacht, da er ja zum Stillschweigen verpflichtet sei. Erst recht habe er sich davor gehütet, Dr. Festa gegenüber über P. Pio zu sprechen. Dr. Festa habe "einen Mißbrauch begangen", als er seine Erklärungen in die Presse gegeben habe. Weiter schreibt Gemelli: "Ich habe gefragt, ob ich ihm antworten kann, und es wurde mir befohlen, Stillschweigen zu bewahren und die Sache laufen zu lassen. Ich kenne gut den Verleumdungsfeldzug, den mir diese Schreiber machen und der auf falschen Behauptungen beruht. Meine einzige Schuld besteht darin, daß ich als ärztlicher Experte gehandelt habe " (285).

Demnach steht einwandfrei fest, daß Dr. Gemelli P. Pio im Auftrag einer römischen Behörde eingehend untersucht und die Stigmen geprüft hat. Wann dies war, ist nicht bekannt geworden. Wahrscheinlich geschah dies nicht in San Giovanni Rotondo; man mußte ja jedes Aufsehen vermeiden. Daß es sich um eine eingehende Untersuchung und Beobachtung gehandelt haben muß, darauf deutet auch die Tatsache hin, daß Gemelli mehrmals Berichte an kirchliche Behörden abgegeben hat. Ihr Inhalt muß sehr ungünstig gegen P. Pio gelautet haben; sonst wäre nicht Dr. Festa gegen Gemelli aufgetreten. Dies bestätigt außerdem die Äußerung, die Luigi da Avellino im November 1932 abgegeben hat, nämlich, der Bericht, den P. Gemelli "nach vorgenommener Untersuchung, welcher P. Pio unterworfen worden sei", abgegeben habe, sei "fürchterlich" (terribile) gewesen. P. Luigi soll aber den Bericht selbst nicht gekannt haben (286).

Daß die Gutachten Gemellis gegen Pio lauteten, geht schließlich auch daraus hervor, daß die kirchliche Behörde wiederholt gegen den Pater Maßnahmen ergriffen hat, wobei zu bedenken ist, daß offenbar auch andere Kreise ihre Bedenken in der Angelegenheit vorgebracht haben. Da über P. Pio inzwischen Hunderte von Schriften seiner Verehrer veröffentlicht worden sind, wäre es nicht bloß zu begrüßen, sondern eine Notwendigkeit, daß die Gutachten Dr. Gemellis auch veröffentlicht würden, ein Wunsch freilich, der nicht erfüllt werden wird. Dr. Gemelli durfte nicht reden, weil ihn ein Eid band. Nicht einmal sich zu verteidigen wurde ihm gestattet. Man fragt mit Recht, ob es der richtige Weg ist, "die Sache laufen zu lassen", wie Dr. Gemelli bedeutet wurde. Man läßt ja schließlich die Dinge gar nicht laufen, wenn eine sehr wichtige Quelle verstopft wird. So kann man der Wahrheit nicht dienen. Wenn seit Jahrzehnten mit kirchlicher Druckerlaubnis Hunderte von Schriften zur Verherrlichung des Paters Pio herausgegeben werden, in denen nur einseitig informiert, ja nicht selten glatter Unsinn vertreten wird, dann hätte schon längst die zuständige kirchliche Behörde das Urteil Gemellis veröffentlichen müssen. Geschieht dies nicht, dann kann man nicht anders als von einer geduldeten Irreführung sprechen.

6. Maßnahmen gegen P. Pio

Die Menschen lieben Sensationen. P. Pio ist zum Sensationsfall geworden, nicht ohne Schuld seiner Vorgesetzten. Wie in ähnlichen Fällen, so wurde auch San Giovanni Rotondo zum vielbesuchten Wallfahrtsort, kaum nachdem bekannt geworden war, daß sich dort etwas "Wunderbares" ereignet hatte. In ständig wachsender Zahl erschienen von nah und fern Menschen jeden Alters und aller Berufe, "insbesondere Ärzte, Journalisten, sehr viele Kranke im Vertrauen, geheilt zu werden, unter ihnen viele Personen, die sich vom Teufel besessen wähnten und vom Dämon befreit werden wollten" (287). Im Lauf der Zeit wuchs die Zahl der Besucher mehr und mehr an; ebenso steigerte sich die Briefflut, die alltäglich im Kloster von San Giovanni Rotondo einlief. An manchen Tagen sollen aus allen Gegenden der Erde bis zu zehntausend Briefe eingelaufen sein. Es ist klar, daß der Pater diese riesige Korrespondenz nicht bewältigen konnte. Aber zu diesem Zweck wurde ihm "eine Reihe Sekretäre" zur Verfügung gestellt, welche für ihn die Arbeit verrichteten (288).

Natürlicherweise war von Anfang an die vorgesetzte kirchliche Behörde an der Sache interessiert. Nicht ohne Einfluß auf das weitere Geschehen blieben zustimmende Äußerungen kirchlicher Würdenträger, die schon ein Jahr nach der Stigmatisation des Paters einsetzten. Empfehlungsschreiben kirchlicher Behörden und Personen sicherten Pilgern eine Begegnung mit P. Pio zu. Bereits am 19. November 1919 wandte sich das Sekretariat des Kardinals Gasparri an den P. Guardian in San Giovanni Rotondo und empfahl eine gewisse Familie Rossi, die bei dem Pater beichten und kommunizieren wollte (289). Aber es dauerte auch nicht lange, bis zur Vorsicht mahnende Stimmen laut wurden. Schon im Jahr 1919 wollte der Ordensobere der Kapuziner erreichen, daß P. Pio San Giovanni verlasse und sich in ein anderes Kloster begebe. Solche Versuche, den Pater zu versetzen, wurden im Lauf der folgenden vierzehn Jahre immer wieder gemacht; es war aber unmöglich durchzugreifen, weil der Widerstand der Anhänger des Paters zu groß war; sogar weltliche Behörden setzten sich für den Pater ein. Sobald verlautete, P. Pio müsse San Giovanni Rotondo verlassen, wurden von der Bevölkerung Tag- und Nachtwachen eingeteilt, die bereit waren, eine Versetzung auch unter Anwendung von Gewalt zu verhindern. Da halfen selbst im geheimen erlassene Verordnungen nichts; sie wurden regelmäßig, offenbar durch Eingeweihte, der Öffentlichkeit bekanntgemacht (290). Ja, als 1931 das Kloster San Giovanni Rotondo einen neuen Superior erhalten sollte, ließ sich nicht einmal dies durchführen. "Alles sollte im geheimen geschehen." Aber in der Ortschaft erfuhren davon Leute außerhalb des Klosters bereits Tage vor dem Termin und in kürzester Frist wußten es alle. Sofort fanden sich viele Leute ein, die "bis zu den Zähnen bewaffnet waren", um den Konvent zu bewachen. Dauerwachen wurden eingeteilt; die ankommenden Leute mußten sich sogar eine Kontrolle gefallen lassen. Ein Klosteroberer konnte nur unter Polizeischutz Zutritt finden. Unter diesen Umständen mußte der Provinzial auf weitere Schritte verzichten.

Die ersten Maßnahmen gegen P. Pio wurden im Frühjahr 1923 vorgenommen; sie erstreckten sich dann über die folgenden Jahre hin bis 1933. "Nachdem viele Apostolische Visitationen zur Prüfung des Falles nach San Giovanni Rotondo gekommen waren, erklärte das Hl. Offizium, daß die Phänomene, die P. Pio zugeschrieben werden, nicht übernatürlichen Ursprungs seien" (291). Diese Erklärung wurde am 31. Mai 1923 veröffentlicht. Drei Monate später erhielt P. Pio zur Auflage, er dürfe künftig nicht mehr in der Öffentlichkeit die hl. Messe feiern; es wurde ihm lediglich gestattet" in der kleinen Klosterkapelle zu zelebrieren (292). Daraufhin kam es zu einem "Volksaufstand". Dreitausend Menschen drohten mit "gewaltsamen Vergeltungsaktionen". Da bekamen es die Ordensoberen mit der Angst zu tun und, gestatteten dem Pater wieder die Zelebration in der Kirche (293). Am 24. Juli 1924 wiederholte die römische Behörde die Verordnung des vorausgegangenen Jahres. Es heißt in dem Schreiben, eine vorgenommene Untersuchung der Angelegenheit habe ergeben, daß den Dingen kein übernatürlicher Charakter zukomme. Nachdem inzwischen "aus vielen und sicheren Quellen andere Informationen" eingelaufen waren, ermahnte das Hl. Offizium " neuerdings mit noch eindringlicheren Worten" die Gläubigen, sie möchten Besuche bei P. Pio unterlassen und sich jeglicher Verbindung mit ihm enthalten, auch wenn dies nur durch Briefe geschähe, die eine Verehrung des Paters zum Ausdruck brächten (294).

In weiteren Verlautbarungen 1926 und 1931 wurde betont, es werde niemand verurteilt; über die Angelegenheit wird gesagt, deren Übernatürlichkeit stehe nicht fest (non constare de eorum supernaturalitate) (295). Als im April 1931 verlautete, von Rom werde ein Oberer nach San Giovanni Rotondo gesandt, kam es zu einem Volksaufstand. Die Leute stürmten am 7. April gegen 22 Uhr das Kloster und verlangten "die unverzügliche Auslieferung" eines Paters, der als Gast im Kloster weilte und in dem die Leute einen Gegner Pios vermuteten. Von da ab wurde das Kloster vor der aufgeregten Menge Tag und Nacht bewacht (296).

Nach den vorausgegangenen Verordnungen erfolgte am 23. Mai 1931 eine schärfere Maßnahme. Nunmehr wurde P. Pio das Recht "über alle amtlichen Befugnisse" entzogen; nur die Feier der hl. Messe wurde ihm gestattet, aber bloß in der Privatkapelle innerhalb des Klosterkonvents und ohne irgendeinen Teilnehmer (297). Diese Einschränkungen galten bis 1933. Johannes Maria Höcht meint, P. Pio habe dann seine frühere Tätigkeit wieder ausüben dürfen, weil "die Untersuchung seiner außergewöhnlichen Zustände... ihre Echtheit erwiesen" habe (298). Aber um die "außergewöhnlichen Zustände" und die Frage der "Echtheit" ging es gar nicht. Es drehte sich offenbar um eine Reihe von Anklagen gegen P. Pio, die nicht berechtigt waren. Papst Pius XI. kam aufgrund von eingehenden Nachforschungen zur Überzeugung, "daß Pater Pio für Dinge bestraft wurde, die er nicht getan hatte" (299).

7. Beurteilung der Stigmatisation

Die Wundmale bei P. Pio müssen im Rahmen aller Stigmatisierten gesehen werden. Es handelt sich ja bei diesen Phänomenen keineswegs um etwas Einmaliges. Die Entstehung und Entwicklung von Wundmalen zeigt zwar bei den einzelnen Stigmatisierten ein vielgestaltiges Bild; in vielen Punkten kann man aber auch auffallend ähnlich geformte Entwicklungen feststellen. So treten die Male fast nie zu gleicher Zeit auf; sie sind vielmehr auf verschiedene Termine verteilt. Sie unterliegen auch einer fortwährenden Veränderung. Das war auch bei P. Pio der Fall. Dies läßt sich nachweisen, obwohl man von 1920 an bis 1968 lediglich auf zufällige und oberflächliche Beobachtungen angewiesen ist.

Die Stigmatisation und die einzelnen Wundmale bei P. Pio werfen eine Reihe von Fragen auf, auch abgesehen davon, daß die Berichte Abweichungen aufweisen.

Wie bei anderen Stigmatisierten fällt der Zusammenhang mit Kränklichkeit auf, insbesondere das Vorliegen von Krankheiten, die den Ärzten "unlösbare Rätsel" auferlegen. In erster Linie interessiert natürlich der Termin für die äußerlich sichtbaren Male; bei P. Pio war dies der 20. September 1918. Kurz vorher litt er an der "Spanischen Grippe". Vom 5. Juli bis zum 17. September war er bettlägerig. Als "seine Augen noch fiebernd, sein Körper geschwächt, seine Kehle wie ausgetrocknet war", in dieser Zeit erhielt er die sichtbaren Wundmale (300).

Nicht zu übersehen sind die widersprüchlichen Angaben hinsichtlich der erfolgten Stigmatisation. Bereits am 8. September 1911 gibt P. Pio an, es habe sich seit einem Jahr in seinen Handflächen "ein wenig Rot in der Größe eines Centesimo" gezeigt und "unter den Füßen" habe er "ein wenig Schmerz" gespürt. Dieses Phänomen habe sich "beinahe ein Jahr hindurch" wiederholt (301). Ja, es kehrte sogar in den folgenden Jahren bis 1918 "fast jede Woche" regelmäßig wieder (302)

Wenn P. Pio von 1910 an unter schmerzenden, zwar nicht blutenden, aber doch sichtbaren Wunden zu leiden hatte, warum wird dann behauptet, er habe erst am 20. September 1915 die unsichtbaren Wundmale" erhalten? P. Pio selber versichert zudem am 10. Oktober 1915, er habe "die Stigmen in sichtbarer Form empfangen"; zugleich betont er, "seit mehreren Jahren fast jede Woche die Dornenkrönung und Geißelung erlitten zu haben (303). Daß hierbei auch Blut vergossen wurde, soll das in San Giovanni Rotondo aufbewahrte Hemd Pios beweisen (304).

Die Mitbrüder Pios in San Giovanni Rotondo sagten aus, vom 7. September 1911 an bis zum Jahr 1918 hätten sich bei dem Pater "fast jede Woche" die Wundmale Jesu gezeigt, "welche nach ein paar Tagen" wieder verschwunden seien (305). Dem widerspricht Pio in seinem Brief vom 10. Oktober 1915. In seinem an P. Agostino gerichteten Schreiben versichert er, er habe tatsächlich "das unsagbare Geschenk" der Wundmale erhalten; die Male seien anfänglich sichtbar gewesen; er habe aber Gott gebeten, "daß er eine solche sichtbare Erscheinung" von ihm nehmen möge; seitdem seien sie "nicht mehr erschienen" (306)

Eine weitere Frage ergibt sich: Wenn P. Pio bereits im Jahr 1910 und dann wieder im Jahr 1915 mit den Wundmalen ausgezeichnet wurde, warum erfolgt dann das Phänomen im Jahr 1918 ein drittes Mal?

Wenn wir den Angaben Pios Vertrauen schenken wollen, dann hat er seiner Wundmale wegen, seien sie nun sichtbar oder unsichtbar gewesen, viele Jahre vor seiner Militärzeit fortwährend entsetzliche Schmerzen durchmachen müssen. Während seines Militärdienstes kränkelte der Pater zwar immer wieder, aber von Leiden, die von Wundmalen ausgingen, hört man in dieser Zeit nie etwas. Pio beklagte sich in dieser Periode über die Ungerechtigkeit, daß er überhaupt die Soldatenuniform tragen mußte, aber über Schmerzen seiner inneren Wunden jammert er nicht. Demnach muß man annehmen, daß er keine derartigen Schmerzen hatte, und rückblickend kann man nicht anders urteilen, als daß die "unsichtbaren Male" nie besondere Schmerzen bereitet haben. Genauso muß bezweifelt werden, ob Pios Angaben über die heftigen Schmerzen nach dem 20. September 1918 der Wirklichkeit entsprechen. Und wenn er schon Schmerzen zu erdulden gehabt hatte, er selber war es doch, der immer und immer wieder von seiner unstillbaren Sehnsucht nach Leiden gesprochen hat. Wenn schon die Stigmen eine Auszeichnung Gottes waren, dann paßt sein Klagen nicht dazu. Außerdem ist jene "geheimnisvolle Persönlichkeit", von der Pio wiederholt spricht, nicht zu verstehen, daß sie nichts anderes zu tun weiß als zu quälen und wieder zu quälen. Gott schickt nicht dienstbare Geister zu solchem Tun.

Daß P. Pio Schmerzempfindungen hatte, wird in keiner Weise bezweifelt. Worauf es aber ankommt, das ist die Frage, von welcher Ursache sie herrührten. Es waren Schmerzen, die sich Pio selbst suggeriert hat. Was Suggestion vermag, ist allgemein bekannt. Solches ist beispielsweise oft und oft zutage getreten bei den "Wunderkuren", die der im Jahr 1779 zu Pondorf a. D. verstorbene Teufelsbanner und Wunderheiler Pfarrer Johann Josef Gaßner an vielen Orten vorgenommen hat. So suchte Ende September 1775 ein Beamter den Wundermann in dem bei Amberg gelegenen Sulzbach auf, damit er ihn von seinen Martern befreie. Die Behandlung nahm folgenden Verlauf: Gaßner fragte den Beamten, was ihm fehle. Dieser antwortete, er habe "ein wenig Reißen" in den Händen. Gaßner stellte fest: "Das wird halt das Chiragra sein." Gegen diese Diagnose protestierte der Patient. Weiter fragte ihn Gaßner, was ihm sonst noch fehle. Der Gefragte erwiderte, er habe auch "ein wenig Reißen" in den Füßen. Der Pfarrer gab die Auskunft: "Das wenige Reißen wird halt das Podagra sein." "Allein der Beamte wurde ungnädig und wollte von keinem Chiragra und von keinem Podagra wissen." Nun ging der Wunderheiler zur eigentlichen Behandlung über. Er sprach, "es solle die Krankheit sich also gleich zeigen". Sofort bekam der Mann "unleidentliche Schmerzen an Wänden und Füßen. Herr Gaßner intendierte durch seine praecepta die Schmerzen so heftig, daß der Beamte jämmerlich zu schreien und zu heulen anfing". Lachend meinte der Pfarrer, wie man nur "wegen ein wenig Reißen" derart schreien könne. "Er befahl, die Schmerzen sollen noch heftiger kommen. Alsdann fing der arme Beamte um Himmelswillen um die Erlösung zu bitten an." Aber Gaßner gab zur Antwort, er wolle ihn nicht eher von seinen Schmerzen befreien, bis er öffentlich eingestehen daß er das Podagra und das Chiragra habe. Sofort rief der Gequälte "überlaut": "Ich habe das Chiragra und das Podagra." Daraufhin erteilte Gaßner den Befehl, die Schmerzen sollten weichen, und sofort ward der Patient schmerzfrei (307). Genauso wie Pfarrer Gaßner in dem Beamten durch Fremdsuggestion Schmerzempfindungen wachrief, in gleicher Weise konnte P. Pio sich selbst durch Autosuggestion Schmerzgefühle erregen. Daß diese durchaus nicht jenem Grade entsprachen, wie sie der Pater selber beurteilte, beweisen unter anderem seine Jammerbriefe, die er als Soldat geschrieben hat.

Erhebliche Bedenken erregt die Tatsache, daß P. Pio offenbar Jahre hindurch die Wundränder seiner Male mit Jod und anderer Lösung behandelt hat. Man kommt an der Frage nicht vorbei: Benötigen von Gott verliehene Stigmen eine derartige Vorsichtsmaßnahme? Muß ein Stigmatisierter seine "übernatürlichen Wunden" mit Jod vor Infektion schützen?

Wenden wir uns den Wunden selbst zu! Vor allem bei der Herzwunde fällt auf, daß sie von den Beobachtern verschieden beschrieben wird. Natürlich konnten Beobachtungsfehler vorliegen; aber so viel kann doch beispielsweise jeder sehen, ob die Wunde Kreuzesform zeigt oder nicht. Aber gerade hierin widersprechen sich die Zeugen; die Beobachter haben zu verschiedenen Zeiten verschiedene Formen vorgefunden.

Auffallend, wenn auch nicht überraschend, ist die Rückbildung der Wunden in den letzten Lebensjahren des Paters. Die Füße zeigten zunächst bloß mehr eine Art von Bluterguß; aber auch dieser ist alsdann verschwunden; nur eine gewisse Schmerzempfindlichkeit soll geblieben sein. Da wird eingewendet, Gott habe eben dem betagten Pater eine Erleichterung verschafft. Aber die Erleichterung hätte dann doch im Wegnehmen der Schmerzen bestehen müssen, nicht aber im Verschwinden der Zeichen sichtbarer göttlicher Erwählung. Auch an den Händen verschwanden in den letzten Lebensmonaten allmählich die Male; dann waren auch keine Blutkrusten mehr zu sehen. Schließlich konnte nach dem Tode des Paters nicht die geringste Spur eines Wundmales gefunden werden. Der Hinweis auf eine kleine Hautschuppe bedeutet gar nichts. Die Verehrer Pios betrachten das Verschwinden der Wundmale als ein neues, großartiges Wunder. Dabei ist die narbenlose Abheilung einer Wunde des Hautepithels ein normaler physiologischer Vorgang. Als P. Pio verstorben war, da konnte man freilich Derartiges noch nicht vernehmen, nämlich, daß Gott ein neues Wunder gewirkt habe. Es berührt geradezu peinlich, wenn der tote Pater bloß deshalb mit Strümpfen an den Füßen und Handschuhen an den Händen aufgebahrt wurde, "einen Skandal bei den Schwachen zu vermeiden", wenn andererseits das Verschwinden der Male als offensichtliches Wunder Gottes ausgelegt wird.

P. Pio war einer der Menschen, die "für Wundmale prädestiniert" sind. Mit dem Stigmatisationsproblem hat sich eingehend der Jesuitenpater Herbert Thurston beschäftigt. Er ist der Auffassung, daß das Beispiel des hl. Franziskus einen "Kreuzigungskomplex" herbeigeführt hat. "Seitdem den Beschaulichen die Überzeugung beigebracht worden, daß die Möglichkeit einer physischen Gleichförmigkeit mit dem Leiden des Herrn durch Anbringung seiner Wundmale an Händen, Füßen und Seite bestehe, da nahm in den Gemütern vieler die Idee dieser Art von Vereinigung mit ihrem göttlichen Meister Gestalt an. Es entstand in der Tat eine fromme Besessenheit, so sehr, daß bei einigen besonders empfindlichen Personen die in Geist und Gemüt aufgenommene Idee sich im Fleisch verwirklichte. ... So weit uns Berichte aufbewahrt sind über die Vorgeschichte stigmatisierter Personen, läßt sich behaupten, daß es kaum einen einzigen Fall gibt, in dem nicht eine der Stigmatisation vorangehende verwickelte Nervenstörung offensichtlich ist. ... Es ist einfach eine Frage der pathologischen Veranlagung" (308). Wieviel auf Kosten dieser Veranlagung geht und wieviel eigenes Zutun in jedem einzelnen Fall bewirken, läßt sich schwer aussagen. Daß auch P. Pio irgendwie mitgeholfen hat, darauf weisen insbesondere hin sein "Thermometerfieber" und das "Phänomen der wohlriechenden Wunden". Hier sei noch mal verwiesen auf das, was wir über die Gutachten des Prof. Dr. Gemelli wissen, und wie sich der Mailänder Kardinal Schuster über die Wundmale des P. Pio geäußert hat (309). Leuten, die mit dem Argument hausieren gehen, einem Mann wie P. Pio sei keinerlei Manipulation zuzutrauen, setzen einfach ein Axiom, um nicht weiter folgern zu müssen.

Francesco Forgione gehörte sicherlich aufgrund seiner Veranlagung zu den für die Stigmatisation Prädestinierten. Man muß berücksichtigen, daß in späteren Schilderungen manches auftaucht, was nicht mit dem tatsächlichen Geschehen übereinstimmt. Es besteht kein Zweifel, daß nicht wenig von dem, was später Über den jungen Francesco ausgesagt worden ist, zur Gattung der Legenden gehört; die Verklärung des Helden wird eben zurückdatiert. Trotzdem ist zu erkennen, daß bereits im jungen Francesco vorgezeichnet erscheint, was später zum Vorschein gekommen ist. Dazu gehört einmal seine Opfergesinnung und seine Leidensliebe. Bereits als neunjähriger Junge soll er sich mit einem Hanfseil, ja sogar mit einer eisernen Kette gegeißelt haben. Da braucht man sich doch nicht mehr zu wundern, wenn später P. Pio behauptet, "seit vielen Jahren" erdulde er auch "beinahe jede Woche die Dornenkrönung und Geißelung". Er wird auch oftmals vom Teufel geschlagen und mißhandelt, sogar mit eisernen Stangen. Andererseits ist es eine "geheimnisvolle Persönlichkeit", die ihm das Herz verwundet und andere Peinen bereitet. Man muß all das in einem Zusammenhang sehen.

Wie berichtet wird, hörte Francesco Forgione "unter dem freien Himmel von Assisi" eine "innere Stimme" zu sich sprechen: "Du wirst wie Franziskus gekreuzigt werden." Diese "Botschaft", die sich ja nur auf die Wundmale beziehen kann, nahm Francesco "begeistert" auf; in "mystischer Weise nagelte er sich selbst ans Kreuz" (310). Die "innere Stimme" kam gewiß nicht von Franziskus; aber die Szene, sei sie auch nur erfunden, zeigt an, wohin die Gedanken des jungen Francesco hinzielten.

Was sich ereignet, geschieht nicht von ungefähr. Das ist nicht anders im Leben des Paters Pio. Er kannte Vorbilder, die er nachzuahmen strebte. Bereits im Noviziat war er fast dauernd kränklich. Dort hat er die freie Zeit benutzt, "die Klassiker der Mystik Theresia von Avila und Johannes vom Kreuz zu studieren". Theresia hat "fast alle ihre Werke in Gehorsam gegen den jeweiligen Beichtvater und Seelenführer verfaßt" (311). Im Leben Pios fällt auf, wie abhängig er von seinem jeweiligen Beichtvater und Seelenführer war. Der Pater hat aber auch viel von seinen Vorbildern übernommen, sogar ihre Sprechweise. P. Ritzel bringt in seinem Buch über P. Pio Auszüge aus Schriften der Theresia von Avila, unter anderem, wie sie die eigene "Herzdurchbohrung" schildert. Das Zitat beschließt P. Ritzel mit den Sätzen: "Fast mit ähnlichen Worten und Ausdrücken berichtet P. Pio von seiner 'Herzdurchbohrung' (Transverberation). Er spricht nur nicht von einem Engel, sondern von einer 'himmlischen Persönlichkeit' (personnaggio celeste), die die Wurflanze in sein Innerstes gebohrt hat" (312).

Es liegt auf der Hand, daß P. Pio sein Vorbild kopiert hat. Genauso hat Pios Zeit und Leidensgenossin Therese Neumann von Konnersreuth gehandelt. Ihre "Visionen" sind weithin offensichtlich Anleihen bei Anna Katharina Emmerick. Das ist eine Tatsache, die sich durch einen Vergleich leicht erhärten läßt, die aber auch von dem zuständigen Ortspfarrer Josef Naber bestätigt wurde, wenn auch Therese und ihre Anhänger dies abgeleugnet haben.

Im Falle Therese Neumann hat der Ortspfarrer Josef Naber von ihrer Erkrankung an einen beständigen und bestimmenden Einfluß ausgeübt. Bei P. Pio übernahmen diese Rolle seine Beichtväter und Seelenführer, insbesondere P. Benedetto da San Marco in Lamis. Bis Ende 1922 bestand zwischen den beiden ein reger Briefwechsel, der deutlich erkennen läßt, wie sehr P. Pio von seinem Seelenführer "geführt" wurde. Wie weitgehend er von diesem abhängig war, zeigt sich unter anderem in den Briefen, die er an seine "geistlichen Kinder" geschrieben hat, wo er sein Herz ausschüttete oder heilsame Ermahnungen gab. Da machte er gerne Anleihen bei den "Briefen und Schriften" des P. Benedetto indem er oft "ganze Abschnitte daraus sich zu eigen machte" Dieser Briefwechsel erfuhr vom 2. September 1922 an eine starke Beschränkung. Dem P. Benedetto wurde von der vorgesetzten geistlichen Behörde jegliche Korrespondenz mit P. Pio untersagt (314). Die Beschränkungen erstreckten sich in der Folge bis zum Jahr 1933.

Nicht übersehen werden darf schließlich der Einfluß der großen Masse. Nachdem das "Wunder von San Giovanni Rotondo" in die Welt hinausposaunt worden war, befand sich P. Pio in einer Rolle, aus der er nicht mehr herauskommen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Daß Wundmale nichts Wunderbares an sich haben, sondern eine durchaus im Bereich der Natur liegende Angelegenheit sind, beweisen die einzelnen Fälle der Stigmatisierten, unter denen sich nicht wenige sehr zweifelhafte Persönlichkeiten befinden. Schließlich wurde im Jahr 1949 die Stigmatisation eines nichtkatholischen, seiner eigenen Angabe nach unkirchlichen Mannes bekannt, des Arthur Moock in Hamburg. Von ihm wurde im Jahr 1949 in illustrierten Blättern berichtet: "Seit Jahren schläft Arthur Moock kaum noch. ... Unmengen Luminal zehrten ,an seinem Körper. ... Brechen die Wundmale auf, muß das schwachgewordene Herz mit starken Dosen Strophantin-Glukose vor Kollaps bewahrt werden, das ist alle vier Wochen. ... Erst nach Austritt des Blutes wird ihm leichter. Seit 1933 trägt der nichtkatholische Hamburger (von Beruf Prokurist) die Wundmale. Sie finden sich bei ihm an den Händen und Füßen und an der Seite. Auch die Male der Dornenkrönung und ein stigmatisiertes Kreuz auf der Stirne treten auf. Dabei hat Moock anscheinend innere Erleuchtungen (Visionen?). Er sieht Christus mit einem Buch auf sich zukommen, der mit ihm redet und ihm Mut zuspricht. Das Eigenartige an diesem Fall ist, daß es sich bei Moock um einen keineswegs religiösen Mann im kirchlichen Sinn handelt. ... Auffallend ist, daß ihn lange Jahre der Stigmatisation Gott nicht nähergebracht und keine Erneuerung und Steigerung der Frömmigkeit verursacht haben. ... Er hat nur einen Wunsch, wieder gesund zu werden.... Es scheint aber keinem der Ärzte zu gelingen, die Wunden zum Heilen und Vernarben zu bringen" (315) Außer Arthur Moock kennen wir noch einen anderen außerkatholischen Fall von Stigmenbildung. Hier wurden die Stigmen allein durch Fremdsuggestion hervorgebracht. Es handelt sich um die Versuche, die Dr. Alfred Lechler mit einer Dame angestellt hat. Diese bekam an Wänden und Füßen Wundmale, entsprechend der durch den Arzt suggerierten Vorstellungen (316).

Viele Ähnlichkeiten und Parallelen mit dem Leben stigmatisierter Personen finden wir bei einer von der Kirche als Heilige verehrten Person, die man als "verhinderte Stigmatisierte" bezeichnen könnte, nämlich Margareta Maria Alacoque. Ihr ganzes Leben erscheint von Leiden geprägt. Von Jugend auf litt sie unter ihren unerklärlichen Krankheiten, aus denen sie immer wieder plötzlich genas. Der Heiland ließ "am Leibe seiner Dienerin fast kein Glied ohne Leid". Die heftigsten Schmerzen kamen von unsichtbaren Wunden. Sie litt "an einem Schmerz an der Seite, um die durchbohrte Seite ihres Erlösers zu ehren"; sie wurde auch "des Vorzugs gewürdigt, seine Dornenkrönung durch ganz besondere Schmerzen am Kopfe verehren zu dürfen" (317). Ende 1678 verwundete sie sich schließlich selbst. "Jesus verlangte von ihr, sie solle zu seinen Gunsten ein schriftliches Testament machen, nämlich eine vollständige, rückhaltslose Schenkung aller ihrer Handlungen und Leiden sowie aller Gebete und geistigen Güter, die man ihr sowohl zu ihren Lebzeiten als nach ihrem Tod zuwenden würde. Der göttliche Meister bestand darauf, daß die Sache ordnungsgemäß abgemacht werde." Dies geschah dann auch. Am 31. Dezember 1678 unterschrieb Margareta Maria die feierlich formulierte Urkunde auf Befehl Jesu mit ihrem eigenen Blut. Sie schildert den Vorgang selber: "Dann unterzeichnete ich sie, indem ich mir mit einem Federmesser den heiligen Namen Jesu einritzte." Über diese selbstbeigebrachte Wunde heißt es: "Als die Schwester Margareta Maria im Herbst 1679 bemerkte, daß die Verletzung, die sie sich durch Einritzen des Namens Jesu auf der Brust zugezogen hatte, sich allmählich vermischte, versuchte sie, in immer heftigerer Liebe zu ihrem Gott erglühend, die Spuren mit einer brennenden Kerze wieder aufzufrischen. Der Erfolg ging jedoch über ihre Absicht hinaus; es bildeten sich Wunden. Am Vorabend ihrer heiligen Exerzitien sah sich die arme Schwester genötigt, ihrer Oberin die Sache mitzuteilen. Mutter Greyié antwortete, sie wolle für ein Heilmittel sorgen, um jeder Gefahr vorzubeugen."

Aber Jesus heilte auf die Bitten der Margareta Maria hin die Wunde auf wunderbare Weise (318).

Offenbar reichte es bei Margareta Maria Alacoque trotz einer entsprechenden Anlage nicht zu einer wirklichen Stigmatisation. Die Angabe, daß Christus ihr befohlen habe, die Urkunde mit ihrem eigenen Blute zu unterschreiben, ist genauso zu beurteilen wie die Märchen, die von ähnlichen Dingen bei Teufelspakten sprechen. Aus dem Bericht, daß sich nach mehr als neun Monaten ein allmähliches Verwischen der Verletzung zeigte und daß Margareta Maria dann mit einer brennenden Kerze nachgeholfen hat, geht hervor, daß sie auch vorher schon die Wunde künstlich unterhalten hat; denn oberflächliche Wunden heilen sehr rasch ab. Hätte Alacoque nicht selber das Entstehen ihrer Brustwunde erklärt, dann würde sie wohl in der Reihe der Stigmatisierten mitmarschieren.

VI. Außerordentliche Gaben

1. Wunder

Daß P. Pio auch einige Wunder zugeschrieben werden, ist nicht anders zu erwarten. Das erste Wunder soll er bereits als Junge von acht Jahren gewirkt haben. Er hat dies später selber erzählt. Sein Vater Orazio machte mit ihm eine Wallfahrt nach San Pellegrino. Im Gotteshaus kniete neben Francesco eine bettelarm Frau, die ihr Kind an sich preßte. Die Frau war "ganz aufgelöst in ihrer Verzweiflung"; denn ihr Kind glich "mehr dem formlosen Fleisch als einem Menschenkind". "Ungestüm und fast drohend stieß die Frau ihre Gebete aus"; dabei liefen ihr unablässig Tränen über das vergrämte Gesicht. Sie forderte offenbar ein Wunder an ihrem Kind. Francesco war von der Herzensnot dieser Frau so ergriffen, daß er selber, inständig betend, zu weinen anfing. Sein Vater Orazio schickte sich an, die Kirche wieder zu verlassen; sein Sohn war jedoch nicht von der Stelle zu bewegen. Als die Mutter merkte, daß ihr Gebet nicht in ihrem Sinne helfen würde, wurde sie allmählich zornig. "Erschöpft vom Jammern und Beten" richtete sie sich auf und "beschimpfte den heiligen Märtyrer mit bösen Worten." In ihrer Verzweiflung sprach sie "ketzerische und gotteslästerliche Worte" gegen den Heiligen; dann hob sie "das kleine Monstrum" hoch und schleuderte es mit Macht auf den Altar. Was ihr Gebet nicht zu bewirken imstande war, das erreichte dieser Wutanfall. "Das auf den Altar geschleuderte Kind stand ohne alle fremde Hilfe auf, schön und frisch wie alle anderen gesunden Kinder; es war vollständig geheilt." Alle Zeugen des Vorfalls waren zutiefst ergriffen, am meisten der kleine Francesco, dem immer noch die Tränen über die Wangen niederrannen. Als P. Pio in späteren Jahren dieses Jugenderlebnis schilderte, beendete er den Bericht mit dem Satz: "Als wir heimgingen, gab der Vater dem Esel einen Hieb, der an nichts Schuld hatte, und mir einen Klaps, weil wir uns doch meinetwegen verspätet hatten." Das Wunder wurde Francesco zugeschrieben, bzw. er nahm es für sich in Anspruch, weil er "inniger und aufrichtiger und mit größerer Einfalt und Unschuld gebetet hatte als die Mutter des Kindes" (319). Es ist die Frage: Hat nun dieses "Wunder" der junge Francesco gewirkt oder ist es dem gotteslästerlichen Fluchen der Mutter des verunstalteten Kindes zu verdanken? Den Angaben gemäß müßte es sich bei dem Kind um ein völlig mißgestaltetes Wesen gehandelt haben, um ein "formloses Fleisch", das in ein schönes, frisches und gesundes Kind verwandelt wurde. Demgegenüber verblassen die Krankenheilungen, die Jesus gewirkt hat.

Von den Wundern, die P. Pio im Kloster San Giovanni Rotondo gewirkt haben soll, ähnelt das eine dem im Neuen Testament berichteten Wunder der Brotvermehrung. Einmal teilte Pio die hl. Kommunion aus. "Die kleinen Hostien waren sehr wenig und der Kommunikanten viele." In einem solchen Fall pflegt der Priester die Hostien zu teilen; aber dies, so wird gesagt, war dem Pater schon immer zuwider. Er brauchte auch so etwas nicht zu tun. Eine wunderbare Hostienvermehrung bewirkte, daß nach der Kommlinionausteilung sogar noch eine Anzahl von Hostien übrigblieb (320).

Zwei Wunder, die P. Pio wirkte, hatten zur Folge, daß Leute trotz strömenden Regens nicht naß wurden. Maria Winowska sagt, fast jedermann in San Giovanni Rotondo kenne das "reizende Abenteuer, das dem Ingenieur Todini aus Rom" begegnet sei. Es geschah so: Todini hatte längere Zeit im Kloster verbracht. Als er gegen Abend wieder heimkehren wollte, sah er, daß es in Strömen regnete. "Und ich habe nicht einmal einen Regenschirm!", sagte er zu P. Pio. Er bat den Pater um die Erlaubnis, im Kloster übernachten zu dürfen. Pio erwiderte: "Nein, mein Sohn, das ist nicht möglich. Du brauchst jedoch nichts zu befürchten. Ich werde dich begleiten." Todini machte sich also auf den Weg, mit hochgeschlagenem Kragen und fest auf den Kopf gedrücktem Hut. Zwei Kilometer mußte er zurücklegen. "Wie groß war sein Erstaunen, als er, ins Freie gelangt, feststellte, daß der Wolkenbruch plötzlich aufgehört hatte! Es nieselte kaum noch, als er bei den wackeren Leuten ankam, die ihm ein Zimmer vermietet hatten." "Madonna mia! Sie müssen ja naß sein bis auf die Haut", rief seine Hauswirtin, als er die Türe öffnete. Diese hörte zu ihrem Erstaunen die Worte: "Gar nicht; es regnet fast gar nichts." Die anwesenden Bauersleute blickten sich erstaunt an und riefen: "Was, es regnet fast nicht? Es ist doch eine wahre Sintflut! Hören Sie nur!" Alle traten auf die Türschwelle und stellten fest, daß der Himmel "alle Schleusen geöffnet" hatte. Verwundert fragten sie: "Seit einer Stunde regnet es unaufhörlich und in Strömen; was haben Sie gemacht, um trocken durchzukommen?" (321). Die geistige Begleitung des Paters hatte dieses Wunder bewirkt. Der Pater hatte aber offenbar kein ganzes Wunder fertiggebracht; denn Todini muß wohl doch durchnäßt worden sein, wenn er auch erklärte, nicht naß geworden zu sein. Für ihn hatte ja nur der Wolkenbruch aufgehört, als er das Kloster verließ. Es "nieselte" jedoch weiter und, als er am Reiseziel angekommen war, "regnete es fast gar nicht". Man wird ja schließlich auch dann naß, wenn man einen Weg von zwei Kilometern bei Nieselregen zurücklegt.

In diesem Fall hat also P. Pio die Wirkung eines Wolkenbruches von vornherein verhindert; in einem anderen Wunder hob er die bereits eingetretene Wirkung plötzlich wieder auf. Frau Vairo, eine Konvertitin, begann, "dem Vorbild der großen Büßer zu folgen". Eines Wintermorgens ging sie barfuß zur Kirche. "Es stürmte, es regnete, es war hundekalt"; der Weg, den die Frau zu gehen hatte, war sehr steinig. "Völlig durchnäßt und mit blutenden Füßen" erreichte sie die Kirche und "fiel auf der Stelle vor Schmerz und Kälte in Ohnmacht". Als sie erwachend die Augen öffnete, erblickte sie P. Pio, dessen Gesicht über sie geneigt war. Er berührte sie leicht an der Schulter und sprach: "Meine Tochter, selbst bei der hl. Messe muß man Maß halten. Zum Glück macht dieses Wasser nicht naß." Wie groß war das Erstaunen aller, die dieser Szene beiwohnten, als sie feststellten, daß die Kleidungsstücke der Frau Vairo "in einem Augenblick völlig trocken geworden sind" (322). Ein Wunder?

Durch ein weiteres Wunder schickte der Pater lästige Raupen auf die Wanderschaft. Am 15. Mai 1932 war eine Grtippe von Pilgern aus Bologna auf dem Weg zum Kloster in Sari Giovanni Rotondo. Plötzlich sahen sie, daß ein gutes Stück der Straße buchstäblich mit kriechenden schwarzen Raupen bedeckt war. Von Ekel erfüllt versuchten sie, an der Stelle vorbeizukommen; aber das war nicht möglich, weil es sich um einen mit Mandelbäumchen umsäumten Hohlweg handelte. "Sie mußten also über diesen ekligen Bodenbelag gehen." In San Giovanni Rotondo erkundigten sich die Pilger nach diesem seltsamen Phänomen. Man gab ihnen Auskunft: "Die Geschichte ist recht einfach. Ganz nahe beim Kloster ist ein Mandelbaumwäldchen, das die Raupen in solchem Ausmaß befallen hatten, daß die Ernte völlig vernichtet zu werden drohte. ... In ihrer Verzweiflung begaben sich die armen Leute zum Pater und flehten in an, ihnen zu helfen. Da ging Pio hinaus auf den Vorplatz und segnete die Mandelbäumchen mit einem großen Kreuzzeichen. Sofort machten sich die Raupen aus dem Staub" (323). - Dieses Wunder geschah im Mai 1932, also in der Zeit, da P. Pio, abgesehen von der Meßfeier in der klösterlichen Privatkapelle, jegliche seelsorgliche Tätigkeit untersagt war. Aber Wunder gehören wohl nicht zur amtlichen priesterlichen Tätigkeit. Über das Wunder haben sich möglicherweise andere Leute gar nicht freuen können; denn P. Pio hat ja die schädlichen Raupen nicht vernichtet; er hat sie nur auf Wanderschaft geschickt, so daß sie dann wohl die Mandelbäumchen anderer Leute vernichtet haben.

Welche Märchen in Umlauf gesetzt werden, zeigt folgender Bericht Maria Winowskas; sie schreibt: "Jahrelang konnten sich die Photographen alle Mühe geben, von vorne, von hinten heimlich heranschleichend versuchen, eine Überraschungsaufnahme zu machen: Die Filme blieben unbelichtet. Mit dem gleichen Film konnte man tadellose Aufnahmen machen; sowie jedoch der Apparat auf den Pater gerichtet war, lief der Auslöser auf Leerlauf. ... Erst als der Pater mit dem Photographieren einverstanden war, gelangen die Bilder" (324). . Solche Märchen sind nur für völlig unkritische Menschen Wunder.

2. Sprachengabe

P. Pio verstand von den modernen Sprachen außer seiner Muttersprache keine andere. Trotzdem beichteten gelegentlich bei ihm auch Leute, die nicht Italienisch gelernt hatten. Der Zuspruch des Paters geschah dann zwar in seiner Muttersprache, die Beichtenden sollen ihn aber doch "verstanden" haben. Es wird allerdings nicht behauptet, daß sie des Paters Worte in ihrer eigenen Sprache gehört hätten.

Gelegentlich wird aber auch angegeben, P. Pio sei mit der Sprachengabe ausgezeichnet gewesen. So verlautet: "Pio hatte die französische und griechische Sprache nicht gelernt; aber er verstand die eine und die andere Sprache." Er soll auch in französischer Sprache geschrieben haben (325). Am 20. September 1912 schrieb Pio an P. Agostino: "Die himmlischen Personen hören nicht auf, mir zu erscheinen, und sie lassen mich die Trunkenheit der Seligen im voraus kosten. Und wenn die Aufgabe unseres Schutzengels groß ist, so ist jene meines Schutzengels gewiß größer, da er auch den Meister in der Erklärung der anderen Sprachen machen muß" (326) . Demnach hat P. Pio selber die Sprachengabe für sich in Anspruch genommen. Warum offenbart er seine außergewöhnliche Fähigkeit in einem Brief ohne einen ersichtlichen wichtigen Grund? Ein Heiliger darf doch nichts aus sich machen.

Außer Französisch, heißt es, war P. Pio "nicht unbekannt die deutsche Sprache". Als Beweis wird folgender Fall angeführt: Im Jahr 1940 kam zum Pater ein Schweizer Bürger. Das Zwiegespräch wickelte sich in lateinischer Sprache ab. Bevor sich der Schweizer verabschiedete, empfahl er dem Gebete des Paters eine kranke Person. Der Pater gab zur Antwort: "Ich werde sie an die göttliche Barmherzigkeit empfehlen" (327). Aber mit diesem Beispiel wird offensichtlich nicht viel bewiesen. Ein Italiener, der einen deutschen Satz so ausspricht wie P. Pio, zeigt, daß er ein wenig Deutsch gelernt hat; an eine außerordentliche Sprachengabe wird dabei kein vernünftiger Mensch denken.

3. Bilokation

Zuweilen, so wird behauptet, habe Pio die Gabe der Bilokation besessen, er sei also zu gleicher Zeit an zwei verschiedenen Orten zugegen gewesen. Dies soll beispielsweise der Fall gewesen sein, als die Kleine Theresia im Petersdom zu Rom heiliggesprochen wurde. Als Zeuge für das Wunder wird ein Erzbischof Dal Salto in Uruguay genannt, von dem gesagt wird, er stehe dafür ein, was ihm ein "sehr hoher Prälat mit absolut gesunden Sinnen" erzählt habe. Dieser Prälat habe während der feierlichen Seligsprechung der Kleinen Theresia den ihm persönlich bekannten Pater "unverkennbar" erblickt. Der Pater sei aber, als sich ihm der Prälat nähern wollte, um ihn zu begrüssen und mit ihm zu sprechen, plötzlich verschwunden; P. Pio habe jedoch San Giovanni Rotondo nie verlassen. Dieses Gerücht soll auch Papst Pius XI. zu Ohren gekommen sein. Dieser soll daraufhin "den berühmten Don Orione" um seine Meinung gefragt haben. Der Gefragte versicherte angeblich dem Papste: "Ich habe ihn ja auch gesehen!" Daraufhin habe der Papst geantwortet: "Wenn Sie es sagen, glaube ich;es" (328).

P. Agostino wußte von einer Frau aus Florenz zu berichten, ihr sei eines Morgens nach dem Kommunionempfang P. Pio erschienen und habe sie "ermuntert und gesegnet". Einem sizilianischen Hauptmann soll einmal der Pater auf dem Schlachtfelde erschienen sein. Während eines fürchterlichen Trommelfeuers soll plbtzlich neben dem Offizier ein zarter Mönch gestanden sein, der mit dem Gewande eines einfachen Bruders bekleidet war. Der Pater habe gerufen: "Herr Hauptmann, entfernen Sie sich von dem Platz, kommen Sie schnell zu mir!" Kaum habe sich der Hauptmann von seinem Platz entfernt gehabt, da habe an der Stelle, auf der er kurz zuvor gestanden, eine Granate eingeschlagen. Der warnende Bruder sei jedoch nicht mehr zu sehen gewesen.

Auch einige Soldaten von Unteritalien sollen ein ähnliches Erlebnis gehabt habe. Sie wollen in ihrer Mitte einen Klosterbruder gesehen habe, der zum Himmel blickte und betete. Einer von ihnen habe ausgesagt, es habe sich um P. Pio gehandelt (329).

Die Angaben stützen sich nicht bloß auf Zeugen; für die Tatsache solcher Begebenheiten verbürgt sich auch P. Pio selber. Eine seiner "geistlichen Töchter", eine gewisse Giovina, wurde Ende 1914 sehr schwer krank. Am 10. Dezember schreibt P. Pio: "Vor einigen Tagen hat mir der Herr erlaubt, Giovina zu besuchen und hat sie durch meine Vermittlung mit Gnaden überhäuft. ... Es schien, daß es ihr besser ging. Ich bitte Sie vor allem, vor Giovina nichts von meinem Besuch verlauten zu lassen; es ist gut, wenn man des Königs Geheimnis verbirgt" (330). Hier behauptet also Pio selber, daß er, der sein Kloster nicht verließ, die Dame persönlich besucht habe. Warum spricht er davon und warum betont er seine überreiche Gnadenvermittlung? Wenn schon, dann hätte er selber "des Königs Geheimnis" verbergen müssen.

Einmal wollte sich P. Agostino unmittelbar bei Pio vergewissern; er fragte ihn, ob es wahr sei, was man über ihn sage, daß er sich oftmals auf Reisen bis nach Florenz begebe. Der Gefragte versicherte "demütig", dies entspreche der Wahrheit (331).

Im Juli 1968 berichtete P. Onorato seinem Mitbruder Pio, er werde am nächsten Tag nach Lourdes reisen; er bitte darum, Pio möge ihn auf der Reise begleiten. Er fragte auch: "Warum kommen Sie nicht mit? Sie sind doch schon alt und sind noch nirgendwohin gereist!" Pio antwortete: "In Lourdes bin ich bereits zu wiederholten Malen gewesen." Verwundert entgegnete P. Onorato: "Sie haben doch nicht das Kloster verlassen." Da gab Pio zur Antwort: "Nach Lourdes kommt man nicht bloß mit dem Zug oder mit dem Auto, sondern auch auf andere Weise." P. Onorato wandte ein, P. Pio unternehme also ohne Erlaubnis der Ordensoberen schöne Reisen und kehre dann exkommuniziert zurück. "Ein Narr, ein Narr sind Sie", antwortete daraufhin P. Pio, "haben Sie mich jemals das Kloster verlassen sehen? Ihr könnt mich alle Tag und Nacht bewachen und ihr wißt, daß ich mich nicht entferne. Mir scheint, daß Sie nichts begreifen" (332)

Lotti bringt in seinem Buch Über P. Pio eine Erklärung des angeblichen Phänomens. Er meint: "Ist einmal die Tatsache der Wahrnehmung des Paters Pie eigentümlichen Wohlgeruchs erwiesen, wie soll man sie dann anders erklären, als indem man zugibt, sie sei eine Folge seiner unsichtbaren Gegenwart am Orte der Wahrnehmung selber. Bedenkt man weiter, daß die Erscheinung von Pater Pius zuweilen mit seinem intensiven Wohlgeruch begleitet war, so ist der Gedanke an den Zusammenhang beider Phänomene noch klarer" (333). In Wirklichkeit handelt es sich weder bei dem Phänomen der seltsamen Düfte noch auch bei dem behaupteten gleichzeitigen Auftreten des Paters an zwei verschiedenen Orten um unerklärliche Dinge; denn Verwechslung von Personen gehört nicht in den Bereich von Wundern. Ein Wunder liegt auch dann nicht vor, wenn sich P. Pie selber für die Tatsächlichkeit jener Phänomene verbürgt hat. Daß er sich wiederholt geistigerweise oder im Traum in Lourdes aufgehalten hat, nimmt nicht wunder. Es mag auch sein, daß er selber in Verwechslung von Traum und Wirklichkeit an den Besitz der Gabe der Bilokation geglaubt hat; besessen hat er sie ebensowenig wie etwa seine Zeitgenossin Therese Neumann von Konnersreuth, über die ähnliche Märchen erzählt werden. P. Pio litt offenbar an einer katatonieähnlichen Psychose. Zu diesem Krankheitsbild gehören sensorische Trugwahrnehmungen der Depersonalisation, der körperlichen Entfremdung, ja der Empfindung einer Trennung zwischen Geist und Körper.Zwischen Ich und Erlebnis schiebt sich ein Unwirklichkeitsgefühl, das dem Kranken das Gefühl vermittelt, als liege sein Leib im Bett, sein Geist sei jedoch personifiziert an einem anderen Ort unterwegs. In dieser Weise läßt sich die von P. Pio beschriebene Bilokation auf natürliche, jedem Psychiater geläufige Weise erklären.

4. Gehen durch verschlossene Türen

Eine Gabe wurde P. Pio zugeschrieben, die man sonst nur in Märchen zu hören bekommt, nämlich die Fähigkeit, durch verschlossene Türen gehen zu können. "In manchen Fällen", so schreibt Maria Winowska, "kann P. Pio auch verschlossene Türen durchschreiten zum großen Erstaunen derer, die ihm auflauern. So kann er auf elegante Weise von seiner Spur abbringen und Neugierige abschütteln." Als Beweis für diese wertvolle Fähigkeit führt Winowska folgenden Fall an: Eine Gruppe von Pilgern wollte unbedingt P. Pio sehen. Drei Stunden lang lauerte sie an der Türe, durch die der Pater kommen mußte, wenn er zur Kirche gehen wollte. Doch siehe da, der Pater befand sich auf einmal im Beichtstuhl; keiner hatte ihn kommen sehen. Die Leute sprachen darüber mit einem anwesenden Kapuziner. Dieser versicherte: "Durch diese Türe ist er gekommen." Es war eben die Türe, vor der die Leute drei Stunden lang gewartet hatten! - Mit welcher Eleganz nicht Wunder fabriziert werden! Der Auskunft gebende Kapuzinerpater hat offenbar nicht im entferntesten an ein Wunder gedacht oder gar an zwei Wunder zugleich, nämlich an ein Schreiten durch eine verschlossene TÜre und an ein Unsichtbarwerden Pios. Was hätte denn schließlich auch für ein vernünftiger Anlaß vorgelegen, daß Gott durch ein oder gar zwei Wunder den Pater dem Anblick einiger Pilger entziehen mußte?

Ein anderes Mal suchen mehrere Pilger P. Pio zu treffen. Aber er ist nirgends zu finden. Schließlich geben die Pilger auf und machen sich mit ihrem Fahrzeug auf den Rückweg. Von der Schwelle der Kirche aus verfolgen andere Wallfahrer das abfahrende Auto. Als sie zurückschauen, siehe da, P. Pio befindet sich neben ihnen! Sie sprechen ihn verwundert an: "Wo waren Sie denn, Padre? Man hat Sie überall gesucht!" Pio lächelt bloß, indem er spricht: "Ich ging vor Euch auf und ab; Ihr aber habt davon nichts bemerkt." Sprach's und kehrte "ruhig" in den Beichtstuhl zurück (334)

Liegen bei den geschilderten Fällen Wunder vor? Ohne Zweifel nicht. Zu einem Wunder gehört viel mehr. Warum sollte übrigens P. Pio dem abfahrenden Auto an der Schwelle der Kirche nachgeblickt haben? Warum soll er vor den Leuten auf und ab gegangen sein? Verließ er etwa deswegen seinen Beichtstuhl, in dem er vorher offenbar auch nicht aufzufinden war, um vor den Leuten vor der Kirche zuerst unsichtbar und dann sichtbar einherzugehen?

5. Schweben

Eine der wunderbaren Gaben schrieb sich P. Pio selber zu, nämlich die Fähigkeit, schwerelos im Raum zu schweben. Der Pater befand sich, so wird berichtet, auf einem erhöhten Platz in der Sakristei; die Leute drängten sich bis vor seinen Beichtstuhl. Da geschah es auf einmal, daß er plötzlich nicht mehr anwesend war. "Er selbst sagte nachher, daß es ihm derart heiß geworden war, und er schließlich keine Luft mehr bekommen habe, und daß er sich über den Kopf der Leute hinweg davomachte." Keiner der Anwesenden hatte gemerkt, wann und wie der Pater verschwunden war; niemand hätte auch von dem Wunder etwas erfahren, hätte es nicht P. Pio selber ausgeplaudert (335). Das behauptete Wunder gehört zur Gruppe jener Märchen, wie sie wundersüchtige Menschen gerne hören; es gewinnt auch dann nicht an Wahrheitsgehalt, wenn Pio selber dafür eintritt. Interessant ist, daß in der Literatur über Besessenheitsfälle das Schweben als Werk des Teufels hingestellt wird. Der Jesuitenpater Adolf Rodewyk weiß von solchen Fällen zu berichten, ist allerdings der Meinung, die Levitation die Fähigkeit zu schweben, komme auch "rein natürlich" vor (336).

Diese wunderbare Fähigkeit, die einer ganzen Reihe von Mystikern zugeschrieben wird, ist unserer modernen Psychophysiologie wohlbekannt. "Erlebnisse des Schwebens" sind durchaus nicht seltene Erfahrungen eines jeden normalen Menschen, der sich selbst im Traum in die Schwerelosigkeit erhoben glaubt. Die Wissenschaft der Physiologie gibt dafür auch eine einleuchtende Erklärung, nämlich, es handle sich wahrscheinlich um Änderungen der Nervenbotschaften aus unseren Muskeln.

6. Herzenskenntnis

Lotti führt in seinem Buch über P. Pio einige Fälle an, die seiner Überzeugung nach beweisen, daß der Pater in besonderem Maße über die Gabe der Herzenskenntnis verfügt habe (337). Was er allerdings an Beispielen bringt, ist alles andere als ein Beweis. Greifen wir zwei Fälle heraus aus dem Buch Ripabottonis! Den ersten Fall schildert P. Pio in einem Brief vom 24. Januar 1918 an P. Benedetto. In dem Brief spricht der Pater von einem Jungen, der seit längerer Zeit in schwerer Sünde lebe und sich schäme, zur Beichte zu gehen. Unter anderem schreibt er: "Jesus hat mich erkennen lassen, daß N.N. sich seit sehr langer Zeit in der Sünde der Unreinheit befindet und, was schlimmer ist, sich nicht zu beichten getraut. Seit einiger Zeit wollte ich Ihnen das offenbaren, aber ich scheute mich immer, das Ihnen zu sagen, und zwar bloß deshalb, damit nicht daraus eine Beschämung des armen und unglücklichen Jungen entstehe. Aber da ich sah, daß sich dieser Arme bis jetzt nicht zu beichten entschließen konnte, und wenn ich bedenke, daß er sich mit dem Hinschwinden der Tage immer mehr in dem Übel verhärtet, habe ich mich entschlossen, Ihnen alles zu offenbaren. Wenn ich dadurch, daß ich es Ihnen sagte, falsch gehandelt habe, sagen Sie es mir und auch, wie ich mich künftig verhalten soll. Suchen Sie nun nach einem Weg, wie man diesen Armen zur Reue bringen kann. Ich bitte Sie aber darum, meinen Namen um Ilimmels willen nicht zu nennen" (338). Was P. Pio in diesem Fall einem Brief anvertraut, ist nicht unbedenklich. Hat eir das geschrieben, um seine Herzenskenntnis unter Beweis züi stellen? Ein anderer Grund ist nicht ersichtlich. Selbst wenn eir durch eine innere Erleuchtung den Jungen durchschaut gehabt sollte, wieso bleibt ihm die weitere, geradezu selbstverständliche Erleuchtung versagt, was man in solchen Fällen tut? Wozu brauchte er den Rat des Paters Benedetto, der doch allem Gerede nach nicht über besondere übernatürliche Gaben verfügte wie P. Pio? Außerdem hätte es sich um einen Fall gehandelt, bei dem man kein besonderes inneres Licht benötigt; in solch einem Fall hätte eine kurze Aussprache vollauf genügt. In dem veröffentlichten Brief wird zwar der Name des Jungen nicht genannt; an seine Stelle werden drei eingeklammerte Punkte gesetzt. Im Originalbrief scheint aber der Name wirklich gestanden zu haben; darauf weist der Schlußsatz im Brief hin, wo P. Pio inständig um Verschweigen seines Namens bittet. Was da P. Pio getan hat, kann man nicht als unbedenklich bezeichnen. Die Art, wie er in solch einer verdächtigen Form seine Herzenskenntnis unter Beweis stellen will, ist nicht weniger anrüchig. Es bleibt keine andere Schlußfolgerung übrig als die: P. Pio hat so im Geltungsdrang des allgemein verehrten Heiligen und Wundermannes sich selbst Weihrauch gestreut.

Nicht weniger Anstoß muß der zweite Fall von "Herzenskenntnis" erregen. Pio befindet sich als Magister mit einigen Schülern auf einer Wanderung. Da macht er auf einmal ein tieftrauriges Gesicht. Plötzlich spricht er unter Tränen zu den Jungen: "Einer von euch hat mir das Herz durchbohrt." Diese Worte schlugen ein, wie wenn ein Blitz vom heiteren Himmel herniedergefahren wäre. Natürlich trieb die Neugier die Jungen an, den Grund für solches Verhalten zu erfahren. P. Pio gab das Geheimnis auch tatsächlich preis.- "Gerade an diesem Morgen hat einer von euch eine sakrilegische Kommunion empfangen! Ich selber habe ihm die Hostie während der Konventmesse gereicht." Auf diese Worte hin fiel einer der Jungen auf seine Knie nieder und gestand weinend: "Das bin ich." Nun entfernte sich der Pater mit dem Jungen ein wenig. Hernach gestand der Entlarvte die näheren Umstände seines "Sakrilegs" auch seinen Kameraden. Der Pater gab die Lossprechung und die Wanderung ging "fröhlich" weiter (339). - Was soll man zu einem Vorgehen der geschilderten Art sagen? Hätte sich die Sache wirklich so verhalten, wie sie überliefert wird, warum hat P. Pio nicht das Nächstliegende getan, was es gibt? Die Folge seiner übernatürlichen Herzenskenntnis hätte doch nur eine persönliche Aussprache sein dürfen, nicht aber die absichtliche Blamage des jungen Menschen, zu welchem Zweck er noch dazu auf eine ihm günstig erscheinende Gelegenheit wartet, damit die Bloßstellung vollkommen gelingt. Es hätte nur noch gefehlt, daß der Pater den armen Jungen bei der Kommunionausteilung übergangen hätte, wie er es doch auch dann und wann gemacht hat.

7. Nahrungslosigkeit

Sogar Nahrungslosigkeit hat man P. Pio angedichtet; allerdings soll sie nicht lange gedauert haben. Sie erstreckte sich lediglich auf 21 Tage des Jahres 1911, als sich der Pater in Venafro befand (340). In diesen Wochen soll Pio allein von der Hostie gelebt haben. Er kommunizierte "in Ekstase", ohne es zu merken" (341). Es war die Zeit, in der er eine seiner eigenartigen Krankheiten durchmachte. Damals war auch sonst die Eucharistie "fast seine einzige Nahrung". Schon vorher, während der Noviziatszeit, verzichtete "dieser blasse und abgezehrte Novize Tage und Tage hindurch auf Nahrung". Die hl. Kommunion allein war ihm genug. Damals geschah es freilich auch, daß Frater Pio gelegentlich doch etwas aß, und zwar auf Befehl seiner Oberen. Aber es war vergebliche Mühe; sofort erbrach er die eingenommene Speise wieder (342).

Daß dabei nicht einmal die Spur eines Wunders vorliegt, ist so klar, daß man einfach nicht verstehen kann, wieso man auf so etwas Überhaupt eingeht. P. Pio erkrankte offenbar an dem Psychosyndrom der "Anorexia nervosa". Die Anorexie, das heißt der Verlust jeglichen Hungergefühls und die damit verbundene Nahrungsverweigerung stellt die Antwort eines introvertierten, psychopathischen Menschen auf eine Konfliktsituation dar.

P. Pio hat ein sehr asketisches Leben geführt. Freilich, seine Verehrer Übertreiben gerne, wie es in mystisch angehauchten Schriften die Regel ist. Es ist ohne Zweifel eine der gewohnten Übertreibungen wenn gesagt wird, Pio habe sich täglich et nur einmal ins Refektorium" begeben, um "nur die Suppe und ein wenig Gemüse" zu sich zu nehmen (343). Dies mag durchaus für bestimmte Zeiten zutreffen; aber eine Dauergewohnheit war es gewiß nicht.

Von den 21 Tagen im Jahr 1911 abgesehen, hat niemand mehr auch nur einen kurzen Zeitraum entdeckt, in dem Pio "nahrungslos" gelebt hätte. Mit allgemeinen Behauptungen, wie sie beispielsweise Maria Winowska aufstellt, kann man nichts anfangen. Diese kommt im Zusammenhang mit der Schilderung der Militärzeit Pios auch auf das Thema "Essen" und "Schlafen" zu sprechen. Dazu sagt sie: "Es war dem Soldaten sicherlich nicht leicht, sich dem Kommißessen und dem gemeinsamen Schlafraum zu entziehen! Seit Jahren ißt und schläft er fast nicht (344) mehr" . Solche Übertreibungen sind typisch für die "mystische" Literatur.

VII. Beziehungen zur Geisterwelt

1. Erscheinung von Verstorbenen

Bei all dem, was P. Pio an außerordentlichen Gaben und Gnaden zugeschrieben wird, braucht man sich nicht zu wundern, daß ihm auch ein enger Kontakt mit der Geisterwelt nachgesagt wird. Zuweilen, so wird behauptet, offenbarten sich ihm sterbende Menschen oder bereits Verstorbene. In der Regel geschah dies, weil sie sein Fürbittgebet begehrten. Am 29. Dezember 1936 erschien ihm P. Giuseppantonio da San Marco in Lamis zu der Stunde, als er verstarb. Plötzlich stand der Verstorbene wie lebend in der Zelle Pios. Dieser redete den Besucher an: "Wie, man hat mir kaum erst gesagt, daß du sehr krank seiest und du befindest dich hier?" In diesem Augenblick machte P. Giuseppantonio "seine typische Geste" und antwortete: "Eh! Nun sind alle Krankheiten vorbei." Kaum hatte er dies gesagt, war er wieder verschwunden. Diesen Vorfall hat Pio selber erzählt. Er sprach auch sonst "mehr als einmal" über verschiedene Seelen, die ihm erschienen waren, "entweder um sein Fürbittgebet zu erbitten oder um ihm zu sagen, daß sie von den Peinen ihres Fegfeuers befreit seien" (345)

Eines Abends befindet sich P. Pio allein auf seinem Zimmer; er betet den Rosenkranz. "Plötzlich steht vor ein ein alter Mann, eingehüllt in einen kleinen Mantel". Pio fragt ihn nach seinem Begehren. Der Gefragte nennt seinen Namen und erklärt: "Ich habe in diesem Konvent den Verbrennungstod erlitten und befinde mich hier, um mein Fegfeuer für meine Schuld abzubüßen." P. Pio las am darauffolgenden Tag für den Verstorbenen eine hl. Messe, worauf dieser nicht mehr erschien. Nachforschungen haben ergeben, daß tatsächlich die genannte Person vor Jahren im Zimmer Nummer vier durch Verbrennen ums Leben gekommen war (346). Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, daß P. Pio von dem Fall schon früher Kenntnis hatte, bevor das Gespenst erschien.

Einen bestimmten Toten erblickte nicht bloß P. Pio, und dies zu wiederholten Malen, sondern auch andere hatten des öfteren Gelegenheit, den "Geist" zu sehen. Dies geschah in der Zeit, da sich Pio in Pietrelcina aufhielt. Damals erschien mehrmals jeweils am Morgen der verstorbene Erzpriester Capraso; er kniete jedesmal auf dem Betstuhl hinter dem Hochaltar. Hier bemerkte ihn unter anderen auch sein Nachfolger Don Salvatore. Die Frau des Mesners sah den Priester am Hochaltar die hl. Messe feiern; dies geschah, als sie bei Tagesbeginn die Morgenglocke läuten wollte. Aus Furcht tat sie dies künftig nicht mehr, sondern schickte ihren Gatten. Auch P. Pio sah den Verstorbenen, aber "in seiner Einfalt maß er der Sache keine Bedeutung zu, da er glaubte, es handle sich bloß um einen betenden Priester". Als einmal der Erzpriester Don Salvatore nach der hl. Messe seine Danksagung auf dem Betstuhl machen wollte, sah er diesen bereits mit einem Gespenst besetzt. Darum begab er sich in eine Bank an der Seite des Altares. Ungefähr einen Monat später kam der Erzpriester wieder einmal nach Beendigung der Messe am Betstuhl vorbei; diesmal redete ihn das Gespenst an: "Nun kannst du beruhigt sein, weil ich nicht mehr kommen werde." Der Verstorbene sagte auch, er habe bislang büßen müssen, weil er die Danksagung nach der Meßfeier ausgelassen habe. P. Pio bestätigte, daß Capraso sich oftmals, kaum daß er die Messe beendet hatte, in die neben der Kirche befindliche Apotheke begeben habe, ohne eine Danksagung zu machen (347) . Die Erzählung, eines der üblichen Allerseelengeschichtchen, enthält eine Reihe von Ungereimtheiten. Abgesehen davon liegt offenkundig ein Märchen vor. Dies zeigt allein schon die Überlegung, daß Sakramente nur von Lebenden gespendet werden können, nicht aber von Verstorbenen. Kein verstorbener Priester kann die Eucharistie feiern. P. Pio litt an einer Psychose. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Legende über den Erzpriester Capraso aus optischen Trugwahrnehmungen oder aus einer Pseudologia phantastica entsprang. Als Wahrnehmung realer Gegebenheiten kann man sie auf keinen Fall bezeichnen.

Eine andere Geschichte spielte sich im Kloster San Giovanni Rotondo ab. Eines Abends befand sich P. Pio im Chor der Kirche; da hörte er ein "Scharren", das sich durch die Kirche und die Seitenkapelle hinzog. Anschließend vernahm er einen Lärm, wie wenn von der erhöhten Muttergottesstatue Kerzen herunterfielen. Der Lärm zog sich bis zum Tabernakel hin. P. Pio, der glaubte, seine Mitbrüder verursachten die Störung, beugte sich über die Chorbrüstung, um ihnen zu bedeuten, sie möchten sich ruhiger verhalten. Da bemerkte er einen Bruder mit Flammenaugen zu den Füßen des Altares auf der rechten Seite. Er fragte ihn, was er da treibe. Der Frater nannte seinen Namen und erklärte, er müsse hier sein Fegfeuer abbüßen wegen der zu geringen Sorgfalt in seiner Pflichterfüllung und wegen seines Mangels an Ehrfurcht in der Kirche, als er Novize war. P. Pio versprach dem Geist sein Fürbittgebet, worauf das Gespenst versicherte, es werde nicht mehr erscheinen. Zehn Minuten nachdem der Geist verschwunden war, rief Pio seinen Mitbruder Emanuele Brunetto und bat ihn, er möge ihm mit einer Kerze folgen. Vor dem Hauptaltar der Kirche forderte Pio den Pater auf, er solle auf den Hochaltar hinaufsteigen und nachsehen, was hinter dem Tabernakel zu den Füßen des Erzengels Michael zu sehen sei. P. Emanuele fand dort zerbrochene Kerzen. Später einmal kam Pio auf dieses Erlebnis zu sprechen und fügte dann hinzu. "Hier wurde das Noviziat im Jahre 1866 aufgehoben; seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen; wenn also der Novize bloß wegen Nachlässigkeit in den Besorgungen in der Kirche noch im Fegfeuer verbringen mußte, was wird erst sein bei den anderen Fehlern, die andauernd begangen werden?" (348) Mit dieser Schlußfolgerung hat P. Pio recht. Die Frage ist nur, ob wir uns Gottes Gericht so grausam vorstellen dürfen. Jener Novize hatte doch offensichtlich nicht einmal eine Sünde begangen. Sein "Vergehen" bezog sich auf Arbeiten, die er in der Kirche zu verrichten hatte, wie die Besorgung von Kerzen. Welche Gottesauffassung muß man haben, wenn man Gott für ein derart unbedeutendes "Vergehen" eine Strafe von mehr als einem halben Jahrhundert Fegfeuer verhängen läßt? Noch etwas anderes ist zu bedenken: Der ehemalige Novize tritt als Gespenst in der Kirche auf, offenbar bloß ein einziges Mal, und dies ungefähr fünfzig Jahre nach seinem Tod, und was macht er? Er tut nichts anderes, als daß er Lärm in der Kirche schlägt, daß er Kerzen herunterwirft und die Trümmer davon auf den Hochaltar über dem Tabernakel versteckt. Das nennt sich Buße im Fegfeuer! Für sein Verhalten nach dem Tod müßte der Novize ja erst recht bestraft werden; er tut ja jetzt Schlimmeres als zu seinen Lebzeiten, indem er mutwillig fremdes, für den Gottesdienst bestimmtes Eigentum zerstört. Eine weitere Frage: Warum holt Pio noch in der Nacht seinen Mitbruder Emanuele und heißt ihn auf den Hochaltar steigen? Da hätte Pio allein auch nachschauen können; er wußte ja bereits durch die Worte des "Gespenstes", was los war. Was hat sich also wirklich ereignet? Handelte es sich um eine Halluzination oder hatte Pio geträumt?

Wie berichtet wird, suchten P. Pio im Fegfeuer befindliche Seelen in der Regel während der Nacht heim und "ließen ihm keine Ruhe". Auch die Angriffe des Teufels fanden zumeist nachts statt (349). Wir müssen dies auch im Zusammenhang damit sehen, daß P. Pio sehr häufig, vor allem in den letzten Lebensjahren, unter depressiven Phasen seines Grundleidens, einer Art Katatonie, litt. Dabei ist es durchaus wahrscheinlich, daß er unter dem Zwang von Bezugsideen stand und entsprechend handelte.

2. Schutzengel

P. Pio hatte zeitlebens unter den Nachstellungen des "Teufels" zu leiden. Dafür genoß er aber um so mehr den Beistand seines Schutzengels. Man höre und staune, welche Aufgaben dieser Schutzgeist übernommen hat! Er war bereits Pios sichtbarer Gefährte von frühester Jugend an. "In der Gestalt eines kleinen Knaben" näherte er sich ihm, "um ihn zum Beten anzuleiten" (350 ). Der junge Francesco benötigte keine "Weckuhr". "Er kann ruhig schlafen und abwarten, bis daß der kleine Gefährte seiner Kindheit kommt, ihn weckt und mit ihm das Morgengebet betet" (351). Aber nicht nur das, der Engel gesellte sich auch zu Francesco als "Spielgefährte beim Spiel". Dies war der Grund, warum Francesco aus dem Kreis seiner Altersgenossen floh und ihre Bubenstreiche mied; er hatte ja einen besseren Gefährten. "Dieser war vom Himmel gekommen, um seine Kindheit mit Freude und Glanz von oben zu erfüllen und ihm die Sehnsucht nach Gott und dem Paradies ins Herz zu legen." Daß aus dem Francesco Forgione später ein so frommer Mann wurde, verdankt er also im wesentlichen seinem Schutzengel. Dieser verfolgte ihn auch in seinem weiteren Leben mit seinem Beistand. "Er hilft ihm während des Probejahres im Noviziat, er hilft ihm beim Studium, er ermuntert ihn in seinem Heiligkeitsstreben, er geleitet ihn auf den außergewöhnlichen Wegen, die Gott ihn führt, er verteidigt ihn gegen die Angriffe des höllischen Neiders" (352)

Die Hilfe des Schutzengels nahm manchmal ganz außergewöhnliche Formen an. "Als der Pater Augustin Pio aus irgendeinem Grunde in Französisch und Griechisch schrieb, ist es der Schutzengel, der ihm Übersetzerdienste leistet" (353). In diesem Falle melden sich freilich gelinde Zweifel: Welche Absicht verfolgte denn P. Augustin damit, daß er an P. Pio in einer Fremdsprache schrieb? - P. Ritzel berichtet: "Als der Böse ihm einen Brief durch einen großen Tintenklecks unleserlich macht, gibt ihm sein Engel ein, er möge den Brief des Seelenführers mit Weihwasser besprengen, bevor er ihn öffne. Er tut es und kann den Brief dann auch lesen" (354). Die Sache gibt freilich keinen rechten Sinn. Warum öffnet nicht P. Pio zuerst den Brief, bevor er mit Weihwasser anrückt? Was der Pater erzählt hat, ist ein Märchen. Wunder von solcher Art vermag jedes Kind zu wirken.

Der Teufel, so wird verkündet, hat dem Pater noch weit schlimmere Streiche gespielt. Einmal kam er gar in der Gestalt eines Mitbruders an, "um ihm im Namen des Provinzials sagen zu lassen, er dürfe nicht mehr an seinen Beichtvater schreiben." Wiederum war es sein guter Engel, der die Täuschung des Bösen aufdeckte. Was Pio befürchtete bzw. was er einem Gespenst in Kapuzinergestalt verkündigen ließ, wurde Wirklichkeit, als die kirchliche Obrigkeit ihm jeglichen Briefverkehr untersagte. Es geschah auch zuweilen, daß Pio von Dämonen schwer mißhandelt wurde; aber es dauerte nicht lange, bis der Schutzengel erschien und ihn "aufheiterte" (355). Während der Mißhandlung selber allerdings hat er nicht helfend eingegriffen!

Es kam auch vor, daß bestimmte Menschen ihren eigenen Schutzengel mit einem besonderen Auftrag zu P. Pio schickten; der Auftrag wurde prompt ausgeführt. Da hatte sich ein gewisser Ventrella eines Morgens etwas verspätet, so daß er fürchten mußte, nicht rechtzeitig anwesend zu sein, wenn Pio die Messe begann. In seiner Not sprach er: "Mein Schutzengel, geh zum Pater und sag ihm, er möge den Meßbeginn ein wenig hinauszögern; zum Zeichen dafür, daß du meinen Auftrag erfüllen wirst, versteck ihm sein Käppchen!" Und, o Wunder, der Schutzengel ließ sich auf den Lausbubenstreich ein! Als der Berichterstatter die Kirche betrat, war P. Pio gerade erst an den Stufen des Altares angekommen. Nach dem Ende der Meßfeier folgte Ventrella dem Pater in die Sakristei. Hier war er dann Zeuge, wie Pio in Schränkchen und Schubkästen nach etwas suchte. Es stellte sich heraus, daß er sein geheimnisvoll verschwundenes Käppchen suchte. Schließlich fand es sich in der Kapuze des Paters. Auch sonst kam es zu wiederholten Malen vor, daß Leute ihren Schutzengel zu Pio schickten; dieser bestätigte dann dessen befehlsgemäßes Erscheinen (356). Man stelle sich die Folgen vor, wenn jener Ventrella viele Nachahmer fände! Da gäbe es keinen pünktlichen Meßbeginn mehr; denn die Schutzengel sind offenbar gerne zu Streichen aufgelegt.

Eines Tages wollte Rachelina Russo mit P. Pio sprechen. Dieser jedoch verweigerte den Empfang. Die Frau ging betrübt nach Hause; aber sie sprach zu ihrem Schutzengel: "Geh zum Pater und sag ihm, daß ich traurig bin, zornig über diese Behandlung. Ich arbeite angelegentlich für die Brüder, er aber behandelt mich erbarmungslos. Mein Schutzengel, geh zum Pater und teile ihm die ganze Bitterkeit meines Herzens mit; sag ihm, daß ich morgen nicht die Messe anhören und daß ich nicht kommunizieren werde!" Klar, daß der Schutzengel solch eine Drohung ernst nehmen mußte. Am Tag darauf bestätigte P. Pio, daß der Engel den erhaltenen Befehl genau ausgeführt hatte (357).

Wir haben gehört, daß P. Pio von frühester Jugend an einen ganz vertrauten Umgang mit seinem Schutzengel genoß. Es scheint sogar so, daß dieser Engel so etwas wie einen untergebenen Diener abgeben mußte, kam es doch auch vor, daß Pio seinen himmlischen Begleiter tadeln durfte (358). Dies geschah einmal, als dem Pater eines Nachts die Teufel besonders Übel mitgespielt hatten. In seiner Not rief er, der Engel solle ihm helfen. Aber der Gerufene kam nicht. Maria Winowska meint dazu: "Na ja! Sogar die Engel können abgelenkt sein." "Man hat einen Schutzengel wahrhaftig nicht für nichts und wieder nichts!" Als schließlich der dienstbare Geist gegen Morgen doch eintraf, da "kehrte ihm Fra Pio verärgert den Rücken" (359) Es läßt sich ausmalen, wie schwer der saumselige Engel an dieser Strafe getragen hat.

Es müßte eigentlich einleuchten, daß solche Schutzengelgeschichtchen nichts anderes sind als peinlich-naive Schwätzereien. Sie werfen bereits ein Licht voraus auf die Teufelsmären, an denen Pios Leben überreich war. Es ist bei derlei kindlichen Fabeleien nicht recht klar, wem man das größere Maß an Naivität zuerkennen soll, P. Pio oder seinen Berichterstattern.

3. Dämonen und Teufel

Im Leben des Paters Pio spielen Verfolgungen durch böse Geister eine ausnehmend große Rolle; dabei wird zwischen Dämonen und Teufeln nicht unterschieden. Man sagt dem Pater nach, er habe sich sogar an Ereignisse erinnern können, die sich abspielten, als er noch in Windeln eingewickelt in der Wiege lag. Schon in frühester Kindheit soll er auch Visionen gehabt haben, und zwar "himmlische und teuflische" (360). Bereits im Alter von fünf Jahren mußte er, was keiner in seiner Umgebung auch nur ahnte, "mit den Teufeln kämpfen"; allerdings hatte er auch gleichsam zum Ausgleich das Glück, "die Madonna zu schauen" (361) Von "teuflischen Erscheinungen" wurde er vom fünften Lebensjahr an geplagt. Ungefähr zwanzig Jahre hindurch hatte er in dieser Form zu leiden; diese teuflischen Versuchungen geschahen "immer in den schlüpfrigsten Formen", und zwar "in menschlichen und tierischen" (362)

Aus den Visionen wurden allmählich dann schlimme Teufelsplagen. "In schwerem inneren Kampf mit dem Widersacher mußte sich Francesco Forgione seinen Priester- und Ordensberuf erringen." In einem Brief an die Lehrerin Nina Campanile deutet er diesen Kampf an: "Mein Gott, wer vermag das innerliche Martyrium wiederzugeben, das sich in mir abspielte! Schon die bloße Erinnerung an diesen inneren Kampf, der sich in mir vollzog, läßt mir das Blut in den Venen stocken. Ich hörte die Stimme, die mich zum Gehorsam gegen dich, wahren und guten Gott, verpflichtete. Aber meine und deine Feinde terrorisierten mich, verrenkten mir die Knochen, verhöhnten mich und verdrehten mir die Eingeweide" (363)

Wir erfahren noch wesentlich mehr über Pios teuflische Plagen. Die bösen Geister hatten es vor allem darauf abgesehen, ihn zu Sünden gegen das sechste Gebot zu verführen. Darum erschienen sie ihm oftmals "in der Gestalt von verführerischen jungen Mädchen". Als sich ihm zum erstenmal solche "unreine Gespenster" zeigten, vertrieb er sie, indem er den Namen Jesus aussprach (364). In besonderem Maße setzte der Teufel Francesco Forgione zu in der Zeit, bevor er seinen Entschluß, ins Kloster zu gehen, verwirklichte. Als der Tag seines Abschieds vom Elternhaus nahte, steigerte sich die "teuflische Qual" immer mehr (365). Kaum hatte Francesco im Kloster Aufnahme gefunden, da setzten ihm die Dämonen fürchterlich zu. "Zimmernachbar von Fra Pio zu sein, war wahrlich kein Vergnügen"; denn in seiner Zelle rumorte es nicht selten so gewaltig, daß Pios Mitbrüder des Lärmes wegen während der ganzen Nacht nicht zum Einschlafen kamen. Zunächst nahm man an, Pio selber sei es, der diesen "Höllenlärm" verursache; aber man kam sehr bald darauf, daß sich teuflische Mächte in seiner Zelle austobten. Einmal konnte gar Pio den Teufel, der in der Gestalt eines schwarzen Hundes erschien, beobachten. Es war in der Anfangszeit seines Noviziates. Eines Nachts vermochte Fra Pio nach dem Beten der Matutin nicht wieder einschlafen. Da hörte er in der von Fra Anastasio bewohnten Nachbarzelle einen eigenartigen Lärm. Er beugte sich zum Fenster hinaus, um zu sehen, was los sei. Plötzlich sah er auf dem Sims des Nachbarfensters einen riesigen schwarzen Hund mit einem ungeheuer großen Kopf. Das Tier funkelte ihn mit "so wilden Augen" an, daß er völlig entsetzt aufschrie, ja sogar ohnmächtig zu werden drohte. Das Monstrum machte schließlich einen Riesensatz, sprang auf das gegenüberliegende Dach und verschwand im Dunkeln. Am Tag darauf erst erfuhr Fra Pio, daß seine Nachbarzelle seit einem Monat gar nicht mehr besetzt war. Der vom Teufel Geplagte dachte allerdings in diesem Fall nicht an den bösen Feind. Seine Mitbrüder erfuhren von der Sache, weil er sich "in seiner Naivität in der ganzen Gegend nach diesem schrecklichen Hund" erkundigte (366). Dieses "Erlebnis" erregt freilich ein wenig Erstaunen; man vermag ja nicht einzusehen, was der Teufel in der Gestalt eines Hundes in der verlassenen Zelle suchte. Auch sonst trägt die geschilderte Szene deutlich die Kennzeichen eines bloßen Märchens. Unglaubwürdig ist, daß P. Pio vier Wochen hindurch nicht erfahren haben will, daß seine Nachbarzelle leer stand. Zudem erzählt auch Gherardo Leone in seiner Schrift über P. Pio jene Begebenheit; er betont aber, Pios Mitbruder Anastasio sei anwesend gewesen, Pio habe ihm am Tag darauf das Erlebnis geschildert, Anastasio habe versichert, er habe ebenfalls "jenen Lärm" gehört (367). Verdacht erregt außerdem, daß sich Pio "in der ganzen Gegend" nach dem Riesenhund erkundigt hat.

Zuweilen stellten sich die Teufel sogar gruppenweise ein, um P. Pio zu erschrecken oder zu quälen. Insbesondere hatten sie es auf seine Nachtruhe abgesehen. "Schreckliche Ungeheuer tauchten von allen Seiten auf, so wie er, der heiligen Regel gehorchend, etwas zu ruhen versuchte" (368). Gelegentlich waren die Teufel sogar zu reinem Schabernack aufgelegt. In der Zeit als P. Agostino Pios Seelenführer und geistlicher Berater war, pflegte der Pater regelmäßig bei Don Salvatore, dem Erzpriester von Pietrelcina, zu beichten. "Zur eigenen Richtschnur" und zum Wohle des Beichtkindes verlangte der Erzpriester, Pio müsse ihm die Briefe seines "geistlichen Führers" alsbald, und zwar ungeöffnet, vorlegen, sobald sie angekommen waren. Gefügig wie ein Kind gehorchte der Pater. Eines Tages Öffnete Don Salvatore wieder einmal einen Brief; aber siehe da, der Umschlag enthielt lediglich ein Blatt weißen Papiers. Der Erzpriester forderte Pio auf, P. Agostino zu veranlassen, den vermutlich irrtümlicherweise zurückbehaltenen Brief nachzusenden. Pio jedoch gab zur Antwort: "Nein, er hat .sich nicht geirrt; diese häßlichen Herren haben mir einen Streich gespielt." Es zeigte sich auch, daß P. Pio ohnedies wußte, "was in diesem Brief stand". Punkt um Punkt faßte er alles zusammen, was sein geistlicher Führer ihm geschrieben hatte. Nachforschungen ergaben die Richtigkeit der Angaben (369).

Dieses Ereignis soll also ein Zweifaches bezeugen: Pios hellseherische Fähigkeit und die Bosheit der Teufel. Das Ganze entpuppt sich freilich viel eher als ein Streich des Paters und seines Seelenführers, den beide dem allzu neugierigen Beichtvater Don Salvatore gespielt haben. Die Komödie der "häßlichen Herren" ist doch zu kindisch geraten.

Nicht anders verhält es sich mit einem anderen Gaunerstückchen der "Teufel". Als Don Salvatore wieder einmal einen Brief öffnete, fand er an Stelle des Textes einen riesigen Tintenklecks "in Trichterform". Was tat nun der fromme Erzpriester? Er ergriff den Weihwedel und besprengte das befleckte Papier gründlichst mit geweihtem Wasser. "Der Fleck verschwand sofort, zum größten Erstaunen seiner Nichte, die Zeugin des Vorfalles war"; diese teilte natürlich das Ereignis sofort den Klatschbasen von Pietrelcina mit (370). Nur ein ganz naiver Geist vermag zu glauben, daß Teufel durch einen Tintenklecks einen Brief unleserlich machen und daß Gott durch ein Wunder die Schrift wieder leserlich erscheinen läßt.

Wir haben gehört daß P. Pio einmal der Teufel in der Gestalt eines schrecklichen Hundes erschienen ist. Dies war freilich kein Einzelfall. Bereits im Jahre 1912 schreibt Pio: "Der Teufel hört nicht auf, mir unter seinen gruseligen Gestalten zu erscheinen" (371). So berichtet P. Ritzel. Er erklärt diese Teufelserscheinungen so: "Wie die Engel, so sind auch die teuflischen Geister an und für sich unsichtbar. Sie können sich aber mit den Kräften der Schaubegabten und Beschenkten irgendwie anschaulich machen. Das bedeutet nicht, daß sie diese Gestalt besitzen, wenn sie sich in der Gestalt abscheulicher Tiere, von Kröten, Schlangen, Wildkatzen Löwen, Tigern, von Krebsen, als Jäger ohne Kopf usw. zeigen" (372). Man glaubt bei diesem Text eine Schrift aus der Zeit des unseligen Hexenwahnes in Händen zu haben; aber P. Ritzel hat sein Buch erst im Jahr 1974 herausgegeben. Warum der Pater die angegebenen Lebewesen als "abscheuliche Tiere" bezeichnet, bleibt sein Geheimnis; aber das ist schließlich nur eine Nebensache. Unverständlich bleibt, daß solch massiver Unsinn noch in unserer Gegenwart geglaubt wird und daß ein Buch solchen Inhalts zudem mit ausdrücklicher kirchlicher Druckerlaubnis versehen wird.

Ähnliche Gedanken finden sich übrigens auch in den "Offenbarungen", welche die Seherin Lucia von Fatima erhalten haben will. Im Juli 1917 wurde ihr ein aus drei Teilen bestehendes "Geheimnis" mitgeteilt. Erst im Sommer 1941 hat sie die ersten zwei Teile ausgeplaudert. "Der erste war die Vision von der Hölle." Sie schildert die Gestalt der bösen Geister so: "Die Teufel waren gezeichnet durch die schreckliche und grauenvolle

Gestalt von scheußlichen, unbekannten Tieren", welche "durchsichtig und schwarz" waren (373). Schwester Lucia hat im Jahr 1941 auch erzählt, einmal sei Francisco, eines der Seherkinder, buchstäblich dem Teufel begegnet. Der Knabe hatte sich seiner Gewohnheit gemäß in eine Felsenhöhle zurückgezogen; die beiden Begleiterinnen Lucia und Jacinta blieben bei den Schafen. Lucia erzählt: "Nach einiger Zeit hörten wir ihn aufschreien und uns und die Gottesmutter rufen." Den rasch zu Hilfe geeilten Begleiterinnen erzählte der Junge "mit vor Schrecken halb erstickter Stimme": "Es war eines von jenen riesigen Tieren aus der Hölle, das gegen mich Feuer spie" (374).

Schwester Lucia schaut den Teufel in der Gestalt von "schrecklichen, scheußlichen, unbekannten Tieren". Anders bei P. Ritzel; er kennt die Tiere. Was er über das Erscheinen des Teufels in "abscheulichen Tiergestalten" schreibt, kann man genauso in abergläubischen Büchern finden; beispielsweise ist in dem Buch "Geheimnisse der Nigromatiae und Beschwörung derer bösen Geister" zu lesen: "Der Teufel und die bösen Geister lassen sich gemeinlich in scheußlicher Gestalt sehen, in Raben, Drachen, Fröschen, als schwarze, feurige Hunde, in Katzen, welche dem Christen viel Mühe machen" (375)

Teufelsspuk ist ein beliebtes Thema im Leben von Mystikern. Der Inhalt der Erzählungen ist aber von einer Art, daß er sich ohne weiteres als Märchen ausweist. So verhält es sich auch bei den Teufelsgeschichten der stigmatisierten Anna Katharina Emmerick und Therese Neumann von Konnersreuth. Nicht anders ist der Teufelsspuk zu beurteilen, den Margareta Maria Alacoque erlebt haben will. "Verfluchte", rief der Teufel ihr eines Tages zu, "ich werde dich schon fangen; und wenn ich dich einmal in meiner Gewalt habe, sollst du bitter fühlen, was ich vermag. Ich werde dir schaden, wo ich kann!" Und worin bestand dann der Schaden? "Er plagte sie so, daß sie bei jeder Gelegenheit sich äußerst ungeschickt zeigte: Gegenstände, die sie in den Händen hielt, entfielen ihr und zerbrachen. Oftmals war er aber noch boshafter. Eines Tages stieß er sie, als sie ein irdenes Gefäß mit glühenden Kohlen trug, eine Treppe hinab, ohne daß das Gefäß zerbrach. Die Beschämung war auf Seiten des Feindes und nicht auf der ihrigen; denn sie langte unten an der Stiege an, ohne etwas verschüttet oder sich im geringsten verletzt zu haben. Wenn es mit natürlichen Dingen zugegangen wäre, hätte sie die Beine brechen müssen; aber ihr heiliger Engel wachte über sie." "Zu verschiedenen Malen, als die Schwestern am Kaminfeuer saßen, sahen mehrere Klosterfrauen, wie auf einmal der Schemel, auf dem die Dienerin Gottes saß, unter ihr fortgezogen wurde, ohne daß man wahrnahm, wer mit ihr sein Spiel trieb. Die demütige Schwester fiel dann auf den Boden und nahm nachher ruhig ihren Sitz wieder ein. Als sich das aber eines Tages dreimal unmittelbar hintereinander wiederholte, war es nicht gut möglich, den Urheber dieser Plackerei zu verkennen" (376).

Wenden wir uns wieder dem vom Teufel geplagten P. Pio zu! Die Dämonen begnügten sich bei ihm nicht mit dem Erscheinen in gruseligen Gestalten und mit kecken Streichen, sie setzten dem Pater auch durch körperliche Mißhandlung zu. Darüber wissen wir Bescheid, weil P. Pio immer wider seinem Seelenführer entsprechende Mitteilungen gemacht hat. Einmal beklagte er sich darüber, daß der Teufel ihm keine Ruhe lasse. Dieser, so sagt er, wolle sich seiner "um jeden Preis" bemächtigen (377). Die Nachstellungen des Bösen offenbarten sich in den verschiedensten Formen, vor allem in körperlichen Beschwerden wie Kopfweh und Schmerzen auf der Brust. Im Oktober 1911 wurde Pio seiner Leiden wegen zunächst nach Venafro geschickt, dann zur ärztlichen Behandlung nach Neapel; "aber die Ärzte - in Wahrheit - begriffen wenig". So urteilt der Pater selber über die Mediziner. In Venafro hatte Pio "übernatürliche Ekstasen", aber er mußte auch "viele teuflische Quälereien" erdulden (378). Wo immer er in Klöstern Aufnahme fand, überallhin folgten ihm die böswilligen Geister. Im Jahr 1916 kam er für kurze Zeit nach Foggia, wo er im Kloster S. Anna "entsetzliche Ängste und Schläge von seiten des Teufels" mitmachen mußte (379 ). Der Teufel war diesmal ein "diavolo rumoroso", ein "Lärmteufel". Mit P. Pio kam die Unruhe ins Kloster. Alsbald beklagten sich seine Zellennachbarn, weil "seltsame Geräusche aus seiner Zelle kamen, die sie nachts am Schlafen hinderten". Aber auch sonst trieb der Lärmteufel seinen Unfug. An jedem Abend, zur selben Stunde, da die Religiosen beim Nachtmahl im Refektorium weilten, hörte man auf der über dem kleinen Refektorium liegenden Zelle des kranken Paters plötzlich einen furchtbaren Schlag, wie wenn ein schwerer Benzinkanister auf den Boden des Zimmers gefallen wäre. Als sich dies zum erstenmal ereignete, eilten einige Mitbrüder keuchend zur Zelle des Paters. Sie fanden ihn mit äußerst bleichem Gesicht im Bett liegend; sein Hemd war völlig durchnäßt; er zeigte sich so ermattet, daß er kein Wort zu sprechen vermochte. Solcher Teufelslärm wurde in Foggia zur Gewohnheit. Eines Abends begab sich P. Paolino in das Zimmer Pios und erklärte, er wolle während der Zeit des Abendmahles bleiben, um zu sehen, ob auch dann ein Teufel den Schneid habe, sich zu offenbaren. P. Pio gab zur Antwort, er habe große Hoffnung, daß sich an diesem Abend das gewohnte Ereignis nicht einstellen werde. Trotzdem blieb Paolino. Es ereignete sich auch tatsächlich nichts. Als die Mitbrüder das Refektorium verließen, wollte sich Paolino dorthin begeben, um auch seinerseits das Abendmahl einzunehmen. Aber kaum war er bis zur Treppe gekommen, da hörte er einen schrecklichen Lärm, der ihn "vom Kopf bis zu den Füßen" erschütterte. Rasch eilte er zurück und fand den Pater bleich und schweißdurchnäßt, wie immer in solchen Fällen. Eines Tages erschien der Provinzial P. Benedetto da San Marco in Lamis. Paolino und seine Mitbrüder berichteten ihm von den Ereignissen; der Provinzial forderte P. Pio auf, er solle Gott bitten, daß die Sache ein Ende nehme; er als Vorgesetzter wünsche dies. Aber das half nichts; immer zur selben Stunde, während die Mitbrüder das Abendmahl einnahmen belästigten die Teufel den Pater auf seinem Krankenlager (380). Einen Zeugen ihres Unfugs lehnten sie jedoch ab.

Von Foggia weg schickten die Ordensoberen P. Pio in das abgelegene Kloster San Giovanni Rotondo, damit er sich durch das günstigere Klima rascher gesundheitlich erhole (381). Dies führt als Grund Maria Winowska an. In Wirklichkeit wurde Pio auf sein eigenes anständiges Bitten hin nach San Giovanni Rotondo versetzt. Er bat den Ordensprovinzial persönlich darum und "deutete ihm die wundersamen Dinge an, die Gott dort in ihm wirken" wolle (382). Mit der erwarteten Erholung war es auch in San Giovanni Rotondo schlecht bestellt; das duldeten die böswilligen Teufel einfach nicht. Sie belästigten den Pater vornehmlich zur Nachtzeit in einer Weise, daß die Mitbrüder aufmerksam wurden. Diese vernähmen durch Ketten und auf andere Weise erzeugten Lärm; aber sie beunruhigten sich darüber nicht allzu sehr, weil sie wußten, daß P. Pio die Teufel zu besiegen verstand (383).

Zuweilen hatten es die Dämonen bloß darauf abgesehen, äußere Unordnung zu stiften. Verließ einmal Pio des Nachts seine Zelle, dann fand er bei seiner Rückkehr das Unterste zu oberst gekehrt; das Bett war "in Unordnung"; die Bücher lagen auf dem Boden; das Tintenfaß war zerbrochen (384).

Doch es kam nicht selten noch viel schlimmer. Bereits in der Noviziatszeit geschah es, daß Pio zur Nachtzeit von "schrecklichen Ungeheuern" belästigt wurde. "Morgens hatte er dann oftmals Wunden im Gesicht, blaugeschlagene Augen und blaue Flecken am ganzen Körper (385). Als Pio in San Giovanni Rotondo zum erstenmal von einem Dämon geschlagen wurde, geschah dies deshalb, weil er einem Zögling, der ihn geistigerweise um seinen Beistand angerufen hatte, durch sein Gebet half. Als der Dämon merkte, daß er um seinen erwarteten Sieg kommen würde, wandte er seinen Zorn gegen P. Pio, schlug ihn auf brutale Weise und verletzte ihn an einem Auge. Aber Pio fuhr in seinem Gebet fort und verhalf so dem Zögling zum vollen Sieg über den bösen Geist (386).

Bereits im Jahr 1912 bekennt P. Pio: "Der Teufel hört indessen nicht auf, mir in seinen gruseligen Gestalten zu erscheinen und mich in wahrhaft erschreckender Weise durchzuprügeln." Kurze Zeit darauf schreibt er wieder: "Der Teufel fährt fort, mich zu terrorisieren. Er jagt mir Furcht ein, indem er sagt, er müsse mich umbringen. Ob es ihm Jesus erlauben wird? 0 mein Vater, ich bin bereit zu allem. Aber ich hoffe, daß Jesus ihm nicht die Erlaubnis geben wird" (387). In einem Brief vom 28. Juni 1912 berichtet der Pater: "Die vorletzte Nacht habe ich sehr schlecht verbracht. Dieser gemeine Kerl hat gegen zehn Uhr abends, als ich zu Bett ging, bis fünf Uhr morgens nichts anderes getan, als mich fortwährend zu schlagen. Zahlreich waren die teuflischen Einflüsterungen, Gedanken der Verzweiflung und des Mißtrauens gegen Gott. ... Ich glaubte wirklich, daß das die letzte Nacht meines Lebens sei oder daß ich, wenn ich auch nicht sterben würde, den Verstand verlöre. Aber Jesus sei gepriesen, daß sich nichts von dem bewahrheitete. Als dieser üble Kerl um fünf Uhr morgens fortging, bemächtigte sich meiner ganzen Person eine Kälte, daß ich vom Kopf bis zu den Füßen zitterte wie ein Rohr, das dem stürmischen Wind ausgesetzt ist. Es dauerte ein paar Stunden. Es ging Blut durch den Mund ab. Schließlich kam das Jesuskind, dem ich sagte, daß ich nur seinen Willen tun wolle. Es tröstete mich und ließ mich nach den Leiden der Nacht neuen Mut schöpfen. 0 Gott, wie schlug mein Herz, wie glühten meine Augen neben diesem himmlischen Kind!" (388)

Weiter berichtet P. Pio über das Wüten der teuflischen "Unholde": "Dann stellten sie sich unter den abscheulichsten Gestalten vor, und, um mich zu verführen, fingen sie an, mich mit gelben Handschuhen zu traktieren. ... Sie warfen mich auf die Erde und schlugen mich unbarmherzig, warfen Kopfkissen, Bücher und Stühle durch die Luft, indem sie gleichzeitig verzweifelte Schreie ausstießen und äußerst schmutzige Worte aussprachen." Einmal, so erzählt P. Pio weiter, habe er einen Brief seines Seelenführers öffnen wollen. Da hätten ihm "diese Unholde" gesagt, er solle den Brief zerreißen oder ins Feuer werfen. Pio weigerte sich. Voll Wut stürzten sich die Plagegeister "wie große, ausgehungerte Tiger" auf ihn, indem sie ihn schlugen und drohten, sie würden ihm heimzahlen, was er ihnen angetan habe. Von diesem Tag an hätten die üblen Geister ihn regelmäßig geschlagen. Weiter schreibt Pio.- "Nunmehr sind 22 Tage vergangen, seit Jesus ihnen (= den häßlichen Schnauzen) erlaubt, ihren Zorn an mir auszutoben. Mein Körper, mein Vater, ist ganz zerquetscht auf Grund so vieler Schläge, die er bis jetzt durch diese unsere Feinde erhalten hat. ... Ein äußerst rauher Krieg hat begonnen seit jenem Tag mit diesen häßlichen Unholden. Sie wollen mir weismachen, daß ich schließlich von Gott verworfen werde" (389).

In der Zeit während des Ersten Weltkrieges, als P. Pio die Aufgabe eines Spirituals versah, war ein Zellengenosse des Paters Zeuge eines nächtlichen Teufelsspuks. Ein heftiger Lärm ließ ihn aufwachen. Er hörte Pio seufzen und immer wieder die Worte wiederholen: "Madonna mia!" Aber er vernahm auch Hohngelächter und den von eisernen Stangen herrührenden Lärm; er glaubte sogar zu hören, wie sie gebogen wurden und auf dem Boden auffielen. Das alles verfolgte der von Furcht erfüllte, unter seiner Bettdecke versteckte Mitbruder. Als es dann am frühen Morgen etwas heller wurde, entdeckte er zu seinem grossen Entsetzen, daß eiserne Stangen tatsächlich verbogen auf dem Boden lagen. P. Pio saß auf einem Stuhl; ein Auge war geschwollen und bereitete ihm Schmerzen. Gefragt, was eigentlich während der Nacht losgewesen sei, verweigerte er die Auskunft. Nur dem herbeigerufenen P. Paolino erzählte er sein Erlebnis. Die eisernen Stangen stammten übrigens, wie man bald darauf herausbrachte, aus einer benachbarten Schmiedewerkstätte. Erst später offenbarte Pio, was sich in seinem Zimmer zugetragen hatte: Vom Teufel seien ihm zur Strafe dafür, daß er einem Novizen geistigerweise Beistand geleistet hatte, "fürchterliche Prügel" verabreicht worden. Der Pater nannte auch einen Novizen mit Namen, von dem er behauptete, er sei "von einer starken Versuchung gequält" worden; dabei habe er die Muttergottes und geistigerweise auch ihn, P. Pio, um Hilfe angerufen. Er habe ihm sofort durch sein Gebet geholfen. Pio schließt seine Erzählung mit den Worten. "Der Junge schläft, während ich den Kampf, der stattfand, bestehen mußte; aber ich habe die Schlacht gewonnen" (390). Hätte es sich um ein tatsächliches Geschehen gehandelt, niemals hätte Pio durch Nennen des Namens einen Novizen in der geschilderten Weise bloßstellen dürfen. Interessant in der Fabel ist folgender Zug: Die Teufel brauchen Eisenstangen, um einen Menschen verprügeln zu können; sie schlagen so heftig zu, daß sich die Stangen verbiegen; trotzdem bleiben die Folgen der Mißhandlung erträglich; lediglich ein Auge des Opfers schwillt etwas an; die Teufel lassen nach vollbrachter Tat die Eisenstangen in der Zelle liegen, offenbar zum Zeugnis ihrer Tätigkeit.

In der Zeit zwischen 1915 und 1918 hatte P. Pio, "wenigstens in Venafro", "fast ununterbrochen zwei- oder dreimal am Tag" eigenartige Zustände, die der Arzt als "Starrsucht" bezeichnete; dieser Zustand dauerte jedesmal zwischen einer Stunde und zweieinhalb Stunden; vorausgingen oder folgten regelmäßig "teuflische Erscheinungen" (391)

Die Teufel setzten offenbar P. Pio bis zu seinem Lebensende zu. Eines Tages, es war am 5. Juli 1964, hörte man den Pater laut aufschreien: "Brüder, helft mir! Brüder, helft mir!" Dieser Schrei erfolgte unmittelbar nach einem schweren Schlag, der den Fußboden wanken ließ. Die Mitbrüder fanden den Pater im Zimmer auf dem Bauche liegend; das Gesicht war geschwollen; Stirne und Nase bluteten; eine Reihe von Wunden zeigte sich über der rechten Augenbraue. Was hatte sich zugetragen und was war die Ursache davon? An jenem Tag war der Pater einer besessenen Frauensperson aus dem Gebiet von Bergamo begegnet. Am Tag darauf hat der Teufel durch den Mund der Besessenen eingestanden, er habe am vorausgegangenen Tag gegen 22 Uhr einen Mann aufgesucht, an dem er Rache genommen habe; so habe dieser Mensch ,die Lehre für ein anderes Mal ziehen können (392).

Daß es sich bei diesen "teuflischen Plackereien" nicht um reale Ereignisse, sondern um episodisch auftretende Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen eines Psychotikers handelt, ist jedem Mediziner offenkundig, wenn er das Krankheitsbild des Paters Pio überblickt. Seine eigenartigen Zustände wurden von den Ärzten als "Starrsucht" bezeichnet; dies entspricht der Allgemeinbeschreibung des psychiatrischen Krankheitsbildes der "Katatonie". Auch optische, akustische und sensorische Trugwahrnehmungen gehören zur Symptomatik der Katatonie. Wie weit die halluzinierten Inhalte für wirklich gehalten werden, hängt von der Kritikfähigkeit und der Mentalität des Erlebenden ab. Je nach sozialer Herkunft, beruflicher Vorbildung und der Intensität bestimmter Ereignisse erfahren die Halluzinationen eine andersartige Zusammensetzung. Die Lektüre erbaulicher Schriften und Legenden von Heiligen mag das Auftreten der "Teufelsgestalt" und der Halluzinationen des Paters Pio induziert haben. Der als körperloses Geistwesen gedachte Teufel erhält in den Trugwahrnehmungen des Paters Pio körperliche Züge, ähnlich den zahlreichen Sagen des Volksglaubens und der Hexenliteratur.

P. Pio fühlt sich von den schrecklichen Ungeheuern und gruseligen Gestalten verprügelt, gequält, terrorisiert, so daß sein Körper ganz zerquetscht ist. Der Dämon bringt auch sein Zimmer durcheinander und droht ihn umzubringen. Von Todesangst gequält zittert der Pater am ganzen Körper. Zu den optischen und sensorischen Trugwahrnehmungen gesellen sich auch akustische Halluzinationen, wie beispielsweise die schmutzigen Worte des Teufels. P. Pio kämpft mit Geistern, die sich in seinem Innenleben personifizieren. Beeinflussungen durch irrationale Wesen oder Erscheinungen werden tagtäglich bei Geisteskranken in der psychiatrischen Sprechstunde verzeichnet. Seltsam ist nur, daß Theologen im Falle P. Pios die "Teufelsschilderungen" als reale Gegebenheit deuten.

Wie berichtet wird, hat sich Pio bereits in früher Jugendzeit "gegeißelt". So wird erzählt, daß eines Tages der mit einer eisernen Kette verursachte Lärm seine Mutter habe aufhorchen lassen. Sie entdeckte dann zu ihrem großen Erstaunen hinter dem Bett ihren Sohn, wie er sich mit einer Kette schlug. Die Mutter befahl ihm, damit aufzuhören, aber Francesco "wiederholte oft eine solche Handlung" (393).

Rippabottoni schildert eine Begebenheit aus der Noviziatszeit Pios. Eines Tages befanden sich Fra Pio und Fra Anastasio allein auf dem Chor der Klosterkirche. Sie entdeckten in den Schränkchen der Patres und Laienbrüder Riemen, von denen einige mit Eisenstückchen ausgerüstet waren. Anastasio erklärte: "Mit diesen schlagen sie sich, wenn sie am Abend vom Chor weggehen und laut beten. Wollen wir auch die Probe machen?" Fra Pio war sofort einverstanden und beide schlugen mit den Peitschen "ihre Schultern mit vollem Eifer; besonders tat dies Frau Pio" (394). Was die beiden Novizen taten, war durchaus nichts Außergewöhnliches für einen Kapuzinerkleriker in der damaligen Zeit. Die "Kasteiung" oder, wie sie auch bezeichnet wurde, die "Disziplin" war ja eine besondere Form der klösterlichen Aszese. Der Disziplin mußten sich bereits die Novizen unterziehen, und zwar dreimal in der Woche, am Montag, Mittwoch und Freitag. "Nach dem Abendessen ging man in den inneren Chor. Die Lichter wurden ausgemacht. Nachdem der Novize sich die Kutte über den Buckel gezogen hatte, geißelte er sein nacktes Fleisch, während er an die Leiden Christi dachte. Das Gerät für diese Disziplin war zu jener Zeit eine ungeschlachte Kette mit dicken Kugeln."

Einige sollen sich so stark gegeißelt haben, daß Blut "bis auf den Boden" floß. Die Disziplin gehörte auch zu den vom Lehrer der Novizen auferlegten Strafen. "Er konnte sie in den unvermutetsten Momenten befehlen, und der Novize mußte sich ihr unterziehen, ohne einen Laut von sich zu geben. Wenn er sie im Refektorium befahl, so mußte der Bestrafte hinausgehen und hinter der Tür sein nacktes Fleisch geißeln. Wenn es während der Erholungsstunde geschah, machten die Novizen einen Kreis um den Gefährten, der sich geißelte... . Andere Strafen waren das Anlegen einer hölzernen Ordenskette und der schwarzen Binde vor den Augen. ... Auch die geringsten Übertretungen wurden mit großer Strenge bestraft (395). Die Übung der "Disziplin" erklärt ohne weiteres die "Geißelungswunden", welche P. Pio aufwies.

In dem Buch über P. Pio, das die Patres von San Giovanni Rotondo herausgegeben haben, ist ein Hemd abgebildet, das voller Blutflecken ist. Dem Bild ist folgende Erklärung beigefügt: "Das Hemd der Geißelung. - Er erlitt nicht nur die heftigen Schmerzen, die ihm die Wundmale an Händen, Füßen und an der Seite bereiteten; denn in einem Brief an P. Agostino da San Marco in Lamis (vom 10. Oktober 1915) offenbart der Pater, daß er fast einmal in der Woche die Dornenkrönung und die Geißelung durchmache. Hier ein Hemd der Geißelung: es ist blutbefleckt. Es gehört zu den kostbarsten Reliquien des Paters" (396) . Ein ähnliches Bild befindet sich in der Schrift des Kapuzinerpaters Tarcisio da Cervinara; der beigefügte Text sagt: "Das Ordensgewand, welches Padre Pio im Jahre 1939 trug; ein lebendiger Zeuge der Geißelung, welche Padre Pio in der Nacht ertrug" (397) Es wird demnach die Sache so dargestellt, als ob Pio in geheimnisvoller Weise gegeißelt worden wäre. Diese Auffassung stützt sich auf Behauptungen aus dem Munde des stigmatisierten Paters unmittelbar. So fragte ihn eines Tages der erwähnte Mitbruder Tarcisio: "Pater, wenn Ihr nachts gegeißelt werdet, seid Ihr dann allein oder ist jemand dabei?" Pio antwortete: "Die heilige Jungfrau ist bei mir und das ganze Paradies" (398). Es ist in dieser Frage noch zu bedenken, daß bei P. Pio, wie in der Regel berichtet wird, die eigentliche Stigmatisierung erst im Jahre 1918 erfolgt ist, und zwar bald nachdem er vom Militärdienst befreit worden war. Seinem oben angegebenen, an P. Agostino gerichteten Brief entsprechend müßten aber bereits Jahre zuvor, und zwar recht häufig, Geißelungswunden am Körper des Paters aufgebrochen sein, die reichlich bluteten. Solange jedoch Pio während des Ersten Weltkrieges die Soldatenuniform trug, blutete er nie, sein Hemd war zu keiner Zeit "vollkommen blutbefleckt". Warum wohl nicht, wenn er noch kurz vor seiner Einberufung wöchentlich einmal die Geißelung und Dornenkrönung mitgemacht hat? Warum setzt während des Militärdienstes das "übernatürliche Zeichen" aus? Auch von "teuflischen Mißhandlungen" blieb er während dieser Zeit verschont. Welchen Grund konnten nur die Teufel haben, daß sie ihm keine Schläge verabreichten, als er außerhalb seines Klosters weilte? Wenn der Pater wirklich, wie es die in Büchern verbreiteten Bilder zeigen, am Körper geblutet hat, so kann dies nur als Folge von Selbstgeißelung bezeichnet werden. Ebenso liegt bei den "teuflischen Mißhandlungen" lediglich eigenes Tun vor.

Es ist durchaus möglich, daß sich P. Pio dessen nicht recht bewußt war. P. Staehlin weist auf mehrere Fälle hin, die das bestätigen können. Eines Tages erzählte ihm und seinen Mitbrüdern ein Priester, er habe mehrere Male in der Nacht merkwürdige Erlebnisse gehabt. "Schon im Bett, aber noch wach und bei angezündetem Licht, erschien ihm ein Dämon in Gestalt eines schrecklichen Katers, der sich auf sein Gesicht stürzte und ihm tiefe Kratzer beibrachte. Darauf verschwand er geheimnisvoll." Der Priester, der auf die Spuren des dämonischen Überfalls im Gesicht hinwies, versicherte, in seinem Haus befänden sich weder Katzen noch andere Tiere; die Fenster und Türen seien immer gut verschlossen. Aber "einige einfache Beobachtungen enthüllten die Wahrheit von all dem, was dort vor sich gegangen war. Der Priester hatte sich, ohne es zu merken, selbst das Gesicht zerkratzt, als er das Opfer jener Halluzinationen geworden war" (399).

Staehlin berichtet noch zwei weitere Fälle, bei denen die Verletzungen tiefe Bißwunden waren. "Ein Mädchen begann wenige Monate, nachdem es in ein Noviziat strenger Klausur eingetreten war, sich über Angriffe des Teufels zu beklagen, der sich jede Nacht in Gestalt eines Orang-Utan auf sie warf und sie biß. Nachdem man das Widerstreben der Novizin überwunden hatte, ließ man sie untersuchen. Dabei stellte man zwei Dinge fest: Die Spuren der Bisse zeigten sich nur an jenen Teilen ihres Körpers, die sie selbst mit ihrem Gebiß erreichen konnte und entsprachen in ihrer Form genau ihrem eigenen, etwas ungleichmäßigen Gebiß. Daraufhin verschwand der Orang-Utan für immer." Eine Frau vom Lande, die verheiratet war und vier Kinder besaß, "fühlte sich verfolgt und mißhandelt von einem unsichtbaren Wesen, und zwar gerade in jenen Nächten, die ihr Mann außerhalb des Hauses verbringen mußte. Als Beweise der erlittenen Gewalt wies sie Bisse auf, und zwar diesmal an Stellen, die für ihre eigenen Zähne unerreichbar waren. Die Spuren waren auch viel zu groß für ihr eigenes Gebiß, und auch für das des einzigen Menschen, der bei ihr wohnte, eines Dienstmädchens von vierzehn Jahren, das die Kinder versorgte. Das Geheimnis wurde erst gelüftet, als ihr Mann in einem Versteck ein eigenartiges Gerät entdeckte, das aus einer Mausefalle zurechtgemacht war und jene geheimnisvollen Spuren verursacht hatte, die also von keinem Munde herrührten. Nach dieser Entdeckung hörten die Verfolgungen für immer auf" (400).

In den beiden Fällen, dem der Novizin und der verheirateten Frau, handelte es sich nicht um absichtlichen Betrug. "Die Unglücxlichen lebten zwei Rollen, die des Opfers und die des Henkers." Sie mißhandelten sich selbst, ohne es zu wissen. Die Aufdeckung des unschuldigen Betrugs genügte, um die "dämonischen Mißhandlungen" zu beenden. "In den beiden Fällen entdeckte die weitere Nachforschung aber auch den möglichen Grund jener masochistischen Anomalien. Die Novizin las begierig die Wunderbiographien gewisser Heiliger, die vom Teufel verfolgt wurden. Die verheiratete Frau klagte andauernd darüber, daß ihr Mann ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Wundersucht und das Verlangen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, scheinen die Ursachen jener 'Teufelsverfolgungen' gewesen zu sein" (401)

Die Opfer der Mißhandlungen müssen als Opfer ihrer Halluzinationen bezeichnet werden. "Die Halluzination ist in der Tat ein ganz gewöhnliches, triviales Vorkommnis und, auf der anderen Seite, außerordentlich vielgestaltig und fähig, alle Sinne zu befallen und alles darzustellen, teuflische Szenen so gut wie himmlische und profane. Ihr Inhalt hängt von der Geisteshaltung des Menschen ab, der sie an sich erfährt, aber auch von den Meinungen, den Anschauungen, die er hegt, und den Einflüssen, denen er ausgesetzt ist, usw." (402)

Mit "Erlebnissen", wie sie P. Pio und andere "Mystiker" gehabt haben wollen, läßt sich keine Lehre über Dämonen und Teufeln beweisen. Dies gelingt hier ebensowenig wie durch "Teufelsaustreibungen", von denen die Öffentlichkeit gelegentlich zu hören bekommt. Da mag eine Blamage noch so groß ausfallen, sie verhindert nicht, daß immer wieder ein "Exorzist" mit bischöflicher Erlaubnis seine Teufelsbeschwörungen vornimmt. Der jüngste Fall spielte sich im fränkischen Klingenberg am Main ab, wo am 1. Juli 1976 eine angeblich besessene Studentin verstarb. Mit dem Fall hat sich auch der "anerkannte Experte auf diesem heiklen Gebiet", der Jesuitenpater Adolf Rodewyk, befaßt, der als "kirchlicher Gutachter" fungiert hat (403).

Interessant ist das, was der Bischof und das Bischöfliche Ordinariat von Würzburg zu den Ereignissen um den Klingenberger Exorzismus zu sagen wußten (404). Da wird einmal festgestellt: "Aussagen über das Böse oder den Teufel sind ... dort falsch und widerstreiten dem Geist des Neuen Testamentes und der kirchlichen Überlieferung, wo sie differenziert etwas über das Wesen und Verhalten von Teufeln oder Dämonen zu wissen glauben." Im Jahr 1974 veröffentlichte der genannte Jesuitenpater Adolf Rodewyk in dritter Auflage ein Buch mit dem Titel "Dämonische Besessenheit heute". Im Jahr darauf erschien in zweiter Auflage sein Buch "Die dämonische Besessenheit" (405). Beide Schriften besitzen das Imprimatur des Würzburger Bischöflichen Ordinariates. Der Verfasser weiß sehr viel über das Wesen und Verhalten von Teufeln und Dämonen zu sagen; trotzdem haben die Bücher die kirchliche Unbedenklichkeitsbescheinigung erhalten.

In der Stellungnahme zu dem Klingenberger Besessenheitsfall heißt es weiter: "Die aufgetretenen Symptome - soweit öffentlich bekannt - sind dem Psychiater nicht fremd; sie gehören dem medizinischen Bereich an." Diese Einsicht hilft dem verstorbenen Mädchen nicht mehr. Das Würzburger Bischöfliche Ordinariat beantwortet auch die Frage, welche Folgerungen es aus dem Vorgefallenen zu ziehen gedenke. Es wird gesagt: "In der Sicht der Bischöflichen Behörde müssen Konsequenzen kirchendisziplinärer, theologisch-wissenschaftlicher und pastoraler Art gezogen werden. ... Die Diözesanleitung bittet die Fachtheologen, aber auch die Vertreter einschlägiger anderer wissenschaftlicher Disziplinen, wie Psychologie, Psychiatrie, Soziologie u.a., in möglichst interdisziplinären Untersuchungen die Fragen weiter zu klären, die im Hintergrund solcher Ereignisse stehen." Bei dieser Feststellung kann man nur verwundert fragen: Hat man denn bislang nichts davon erfahren, was Fachleute der angegebenen wissenschaftlichen Disziplinen gesagt haben? Sie haben schon längst und oft genug gesprochen, aber man hat ihre Äußerungen geflissentlich totgeschwiegen oder ihre Argumente gleichsam mit einer Handbewegung erledigt. In diesem Zusammenhang sei bloß auf das verwiesen, was Prof. Dr. Herbert Haag in seinem Buch "Teufelsglaube" unter anderem geschrieben hat: "In der herkömmlichen Lehre hat der Teufel etwas für sich in Anspruch genommen, was Gott allein gehört; er hat sich im Christentum eine Mitte verschafft, die Gott allein zugehört; er hat ein Stück der Weltlenkung für sich usurpiert, die in Wirklichkeit ganz in den Händen Gottes liegt. Schon das läßt erkennen, daß wir es beim Teufelsglauben im Grund mit etwas Heidnischem und zutiefst Unchristlichem zu tun haben. Umso erstaunlicher ist es, daß die universale Verbreitung des Dämonenglaubens in den nichtchristlichen Religionen bisweilen als Bestätigung des christlichen Teufelsglaubens angeführt wird. Gerade diese Argumentation macht das spezifisch Unchristliche des Teufelsglaubens deutlich. Denn die ständige Angst vor einer Bedrohung durch unsichtbare Mächte widerspricht in jeder Hinsicht dem Geist des Evangeliums" (406)

VIII. Schlußbemerkungen

Betrachtet man nüchtern die "außergewöhnlichen Phänomene", die P. Pio zugeschrieben werden, dann bleibt nichts übrig, was unerklärlich erscheint oder als Wunder bezeichnet werden müßte. Werfen wir einen Blick auf das Gebiet des Okkultismus und Spiritismus! Dort treffen wir auf ähnliche Phänomene, die im Kern auf die gleichen Quellen zurückgehen. Sie gehören zum Gebiet der Parapsychologie, der wissenschaftlichen Erforschung von "paranormalen" oder "parapsychischen Phänomenen, die gleichsam "neben" dem normalen Ablauf des menschlichen Lebens vorkommen. Freilich ist hinsichtlich der parapsychologischen Literatur äußerste Vorsicht geboten. Was dort oftmals als wissenschaftlich erwiesen dargestellt wird, ist nichts anderes als Okkultismus, Spiritismus oder gar reiner Betrug (407). Mit Leuten, die in solcher Form "gläubig" sind, ist schwer zu diskutieren, ebenso schwer wie mit Pseudomystikern.

Mit dem Gebiet der Parapsychologie hat sich der in Brasilien lebende Jesuitenpater Edwin A. Friderichs sehr eingehend befaßt. Den Anstoß dazu gab ihm die Tatsache, daß in Brasilien der Spiritismus wie in keinem anderen Lande der Erde verbreitet ist. P. Friderichs hat nicht nur einschlägige Werke studiert; er hat auch selber oftmals an spiritistischen Sitzungen teilgenommen. Er versichert, daß er persönlich auch Zeuge von "extremen Spukfällen" war, die er auch nicht glauben würde, wenn er sie nicht selber erlebt hätte. Auf Grund seiner Studien und persönlichen Erfahrungen sagt er zu den Phänomenen, wie "Telepathie, Hellsehen, Präkognition, Telekinese usw.", man könne sie am besten erklären, wenn man sie ansieht als bewirkt "durch besondere Kräfte des Unbewußten, die in manchen Menschen unter besonderen Umständen wirksam werden, vor allem unter dem Einfluß von Suggestion und Hypnose". Gerade dies, so erklärt er weiter, sind die Phänomene, die sich bei den spiritistischen Sitzungen und Versammlungen zeigen und dort als von Geistern verursacht gedeutet werden. Drängt sich nicht die Parallele direkt auf? Im Leben des Paters Pio, einer Anna Katharina Emmerick und anderer Mystiker werden ja schließlich die "Phänomene" auch auf Geister zurückgeführt. Wo findet sich da ein wesentlicher Unterschied? Hier wie dort handelt es sich nicht um übernatürliche Phänomene. P. Friderichs bemüht sich auf Grund seiner Erfahrungen, den Menschen zu beweisen, "daß diese Phänomene auch ohne Geister vorkommen und bewirkt werden können, um sie vor diesem Aberglauben zu bewahren". Der Pater und sein Mitbruder P. Oscar Quevedo gründeten im Jahr 1970 in São Paulo das "Lateinamerikanische Zentrum für Parapsychologie". Regelmäßig werden Schulungskurse zur Aufklärung gegen den Spiritismus abgehalten. "Die Kurse bestehen aus Vorträgen und Experimenten mit den Teilnehmern." Bereits am ersten Abend werden aus den Teilnehmern des Kurses diejenigen ausgewählt, "die als Medien in Frage kommen, das heißt, suggestiv und hypnotisch besonders beeinflußbar sind". P. Friderichs sagt: "Als erstes lassen wir sie dann 'Visionen' produzieren, um ihnen zu zeigen, daß es gar nicht so schwer ist, 'Geister aus dem Jenseits' zu schauen. Am zweiten Abend behandeln wir den Illusionismus, das heißt, durch Tricks hervorgerufene bewußte und unbewußte Illusionsphänomene, die im Spiritismus so häufig sind: Objekte, die verschwinden und wieder auftauchen, eine 'Astralbotschaft' und ähnliche Phänomene. Der dritte Abend gehört der Hypnose. Es wird erklärt, wie Trancezustände erreicht werden, welche Gefahren und Vorteile die Hypnose hat. Am vierten und fünften Abend finden Vorführungen über Suggestion statt und über Phänomene, die damit zusammenhängen, wie zum Beispiel Paralysie, am Boden kleben, steife Beine bekommen, Anästhesie, fluidische Kräfte; Geister herabrufen, die die Medien an Stühle festbinden; ein intelligenter Tisch, der auf Fragen antwortet, die man ihm stellt, und zwar richtig; eine Tisch-Levitation und ähnliches mehr. Die Experimente finden immer großes Interesse, und am Ende sind viele von ihren spiritistischen Neigungen geheilt. Andere sind wohl für immer davor bewahrt" (408). Man überlege sich: Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen dem Spiritismus und dem, was etwa das Leben einer Anna Katharina Emmerick und eines Paters Pio und anderer begleitet haben soll? Okkultismus und Spiritismus sind nicht anders zu beurteilen, ob sie sich innerhalb der Kirche betätigen oder außerhalb.

P. Friderichs gibt unter anderem als Ziel seines Kampfes gegen den Spiritismus in Brasilien an: "Unsere Botschaft muß wieder als frohe und den ganzen Menschen befreiende Botschaft verkündet und erfahren werden" (409). Gerade dies fehlt dem Spiritismus, ob er im kirchlichen oder außerkirchlichen Gewand auftritt: das Kennzeichen einer frohen und den ganzen Menschen befreienden Botschaft.

P. Pio von Pietrelcina war ohne Zweifel ein frommer Mann, ein froher Mann war er nicht. Sein Leben, das gekennzeichnet ist von einer gewollten und gesuchten Qual, über die er sich aber dann doch immer wieder bitter beklagt, strahlt nicht aus, was den tiefsten Inhalt des Evangeliums, der frohen Botschaft, ausmacht. P. Pio war ein mürrischer Mensch; davon wissen oft und oft Journalisten, Biographen und Besucher zu berichten. (410). Würde all das stimmen, was von den ihm zugeschriebenen Gnadengaben erzählt wird, er stünde wohl über seinem Ordensvater Franziskus von Assisi. Aber ohne Zweifel war er kein Abbild des "Bruders Immerfroh", der als erste seiner Regeln für die Brüder aufgestellt hat. "Wer immer zu ihnen kommen mag, Freund oder Feind, Dieb oder Räuber, der soll liebevoll aufgenommen werden. ... Und die Brüder sollen sich hüten, daß sie in ihrem Äußeren weder traurig noch als trübe Heuchler erscheinen, sondern sie sollen sich fröhlich im Herrn zeigen, heiter und geziemender Weise gefällig."

Das Leben der einzelnen Stigmatisierten bietet bei allen Unterschieden doch im wesentlichen ganz auffallende Parallelen. Eigenartige, "rätselhafte" Krankheiten gehen der Stigmatisation voraus; gewöhnlich werden diese Mystiker auch in ihrem weiteren Leben immer wieder von solchen Krankheiten heimgesucht; dies geschieht namentlich dann, wenn außerordentliche Ereignisse das seelische Gleichgewicht stören. Nicht selten erscheinen die durch Wundmale verursachten Schmerzen als Fortsetzung von vorher freiwillig auferlegten Kasteiungen.

Die Stigmatisierten leiden in der Regel, wie andere Mystiker, häufig unter Depressionen; schwerste Angstzustände können ihr Leben bis an den Rand der Verzweiflung führen.

Zur Veranlagung kommt nicht selten noch der bestimmende Einfluß "führender" Persönlichkeiten. Bei Therese Neumann von Konnersreuth war es der Ortspfarrer Josef Naber; im Leben des Paters Pio waren es der Heimatpfarrer Don Salvatore und dann die zwei "Seelenführer" P. Agostino und P. Benedetto. Offenbar haben die geistlichen Oberen den häufigen Briefwechsel zwischen Pio und seinem zweiten geistlichen Berater, P. Benedetto, mit Argwohn verfolgt. Bereits im Jahr bevor die gewohnte Tätigkeit Pios sehr eingeschränkt wurde, erhielt P. Benedetto ein striktes Verbot, mit Pio weiterhin Korrespondenz zu pflegen; auch das Schreiben von Briefen wurde untersagt. Dies geschah am 2. Juni 1922 (411).

Trancezustände gibt es bekanntlich nicht nur in der christlichen Mystik. Die Trancezustände, wie sie beispielsweise im Buddhismus oder Islam zu finden sind, erscheinen ihrer Form nach dem christlichen mystischen Trance im wesentlichen ähnlich. Der erste Schritt der christlichen mystischen Methode ist seinem Wesen nach nichts anderes als der erste Schritt der hypnotischen Methode. "Diese beginnt mit der Fixierung der Aufmerksamkeit auf irgendeinen Gedanken oder irgendein äußeres Objekt, um die Geistestätigkeit zu beschränken." Es handelt sich um eine Form der Autosuggestion, hier wie dort (412) . Darum ist es äußerst voreilig, bei einem Christen sofort als Lösung aller möglichen Fragen die Diagnose "übernatürliche Einwirkung" anzubieten.

Nirgends stößt man auf die Tendenz der Übertreibung mehr als im Leben von Mystikern. Diesen Hang zu Übertreiben findet man bereits bei den Mystikern selbst. Nur allzu gerne arbeiten sie mit Superlativen, wo überhaupt kein vernünftiger Grund dazu vorliegt. Hier sei bloß darauf hingewiesen, mit welchem Nachdruck sie die ihnen auferlegten Leiden, Qualen und Martern schildern. Das haben beispielsweise Anna Katharina Emmerick und Therese Neumann von Konnersreuth genauso getan wie P. Pio von Pietrelcina.

Die genannte Tendenz setzt sich fort bei den Verehrern der Mystiker. Was im Leben anderer Menschen überhaupt nicht gewertet wird, das ist im Leben der Mystiker einzigartig und einmalig. Alles wird mystifiziert, alles wird glorifiziert; all das aber, was negativ zu beurteilen wäre, wird entweder unter den Tisch gewischt oder leichthin entschuldigt, wenn nicht gar noch verherrlicht. Wer immer es wagt, ein Wort des Zweifels anzubringen, der wird als Ungläubiger, ja Gottloser in Grund und Boden verdammt. Die Sprache, deren sich dabei solche "frommen" Leute bedienen, ist alles andere als christlich. Sie verurteilen und verdammen, aber sie lehnen es ab, sich zu informieren oder auf die Probleme nur im geringsten einzugehen. Ohne Zweifel spielt bei solcher Haltung die Angst mit, aus Illusionen herausgerissen zu werden.

Zur Glorifizierung kommt dann noch die Um- und Neudichtung. Weil man glaubt, Wunder gehörten zum Leben eines Mystikers, werden sie einfach erfunden und natürlich kritiklos geglaubt. Die Dichtung greift zurück bis in die früheste Kindheit des Mystikers. Da macht natürlich auch ein P. Pio keine Ausnahme. Im Alter von noch nicht sechzehn Jahren hat Francesco Forgione als Novize im Kloster Aufnahme gefunden. Aber den Entschluß, Gott "in einem Stand der Hingabe zu dienen", datiert man weit zurück; diesen soll Francesco bereits als fünfjähriger Knabe gefaßt haben (413). Selbst wenn ihm im Kindesalter Gedanken an den klösterlichen Beruf gekommen wären, was bedeutet dies? Sonst nimmt doch auch niemand kindliche Luftschlösser ernst. Aber so ist es nun einmal mit einem "Heiligen". Harmlosen, ja alltäglichen kindlichen Spielereien wird später eine Bedeutung beigemessen, die ihnen in keiner Weise zukommt. Durch Hinzufügen und Übertreibungen wird dann der Eindruck erweckt, als stünde man vor einer Jahrhunderterscheinung, bei der einfachhin alles außergewöhnlich gewesen sein muß. Zu solch einem Märchen gehört beispielsweise im Leben Pios die Behauptung, er habe sich sogar ganz lebhaft an Ereignisse in der Zeit erinnern können, als er noch "in Windeln" in der Wiege lag (414). Eine ähnlich geartete Selbstbeurteilung finden wir bei der Seherin Lucia von Fatima. In einem Bericht an ihren Bischof bekennt sie einleitend: "Es scheint mir, hochwürdigster Bischof, als habe unser guter Gott sich gewürdigt, mich schon als kleines Kind mit dem Gebrauch des Verstandes zu begnaden. Ich weiß noch, daß ich schon in den Armen meiner Mutter mir aller meiner Handlungen bewußt war. Ich erinnere mich, wie sie mich wiegte und mit verschiedenen Liedern in den Schlaf sang" (415)

Zum mindesten ein großer Teil der mystischen Literatur leidet an dem auffallenden Mangel, daß die Verfasser im Bestreben, religiös zu erbauen oder traditionelle Theorien zu verteidigen, wenig Wert legen auf eingehendes und leidenschaftsloses Studium von Tatsachen. Gerade der bloß ermahnende, der apologetische und oft genug auch romantische Charakter der meisten Literatur über religiöse Mystik und über Mystiker erklärt ihre wissenschaftliche Bedeutungslosigkeit.

Als die besondere "Begnadung" des Paters Pio in die weite Welt hinaus verkündet wurde, war der Pater ein Gefangener des Ruhmes. Eine Lawine kam ins Rollen und es war zum geringsten Teil seine Schuld, daß sie nicht mehr aufgehalten werden konnte. Es war wohl in Pietrelcina und San Giovanni Rotondo ni8ht anders als seinerzeit im Falle der Maria Margareta Alacoque. Zuerst erregte sie im Kloster auf Grund ihrer "mystischen Phänomene" Anstoß. Aber sehr bald gewöhnten sich die Mitschwestern nicht nur an ihre Visionen und Offenbarungen, sie wurden sogar stolz auf ihre auserwählte Mitschwester (416).

Natürlich betonen die Biographen des Paters Pio, daß er außerordentlich demütig war; aber er war offenbar doch nicht frei von einem gewissen Maß von Geltungssucht. Wirkliche Demut hätte ihn jede Verehrung ablehnen lassen müssen, zum Beispiel die Gewohnheit seiner Mitbrüder, ihm die Hände zu küssen. Ebenso gewinnt man in den Briefen des Paters nicht den Eindruck, daß er frei von Geltungsdrang war. Wer sich mit Mystikern näher beschäftigt, kann nicht übersehen, welch eine bestimmende Rolle bei manchen das Verlangen spielt, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und eine hervorragende Rolle zu spielen. Als Wissenschaftler konnte P. Pio sich keinen Namen machen; dazu fehlte ihm offenbar die nötige Vorbildung und Neigung. Auch verfügte er nicht über ein auffallendes Rednertalent; in den Schriften über den Pater wird nicht einmal nebenbei erwähnt, daß er gepredigt hat. Für ihn bestand das Leitmotiv seines Lebens in der Leidensmystik. Darauf konzentrierte sich sein Denken und darauf lenkte er auch die Aufmerksamkeit, zuerst seiner näheren Umgebung und dann der weiten Welt, und darin fühlte er sich wohl. Hätte der Pater nicht andauernd über seine "unerträglichen" Leiden geklagt und dies noch dazu, obwohl er ohne Unterlaß seine Leidenssehnsucht betonte, seine Gestalt wäre wesentlich sympathischer.

Wer sich eingehend mit dem Leben "mystischer Seelen", wie eines P. Pio, einer Katharina Emmerick oder einer Therese Neumann beschäftigt, der stößt immer wieder auf eine extrem ausgeprägte Ichbezogenheit, die einem Vollkommenheitsstreben, wie es die Meister der Mystik gelebt haben, völlig entgegengesetzt ist. Man vergleiche bloß die "Nachfolge Christi" des Thomas von Kempen oder die "Philothea" des Franz von Sales mit dem, was Leben und Lehre der oben erwähnten Stigmatisierten zu bieten vermögen!

Es ist verständlich, daß es dann, wenn einmal die Welt auf einen Menschen mit Bewunderung und Verehrung blickt, äußerst schwer fällt, die Wogen der Sensation wieder zu glätten. Das ist schwer für den "Mystiker" und vielleicht noch schwerer für die Umwelt, die sich einmal festgelegt hat. Ein Zeichen dafür ist ja beispielsweise die Tatsache, daß P. Pio mit Strümpfen an den Füßen und mit Handschuhen an den Wänden aufgebahrt wurde, und zwar nur deshalb, weil man sich fürchtete, den Leuten die Wahrheit zu sagen, daß der Pater keine Wundmale mehr trug. Über P. Pio sind Hunderte von Schriften verbreitet worden, die ihn als Wundermann und Heiligen verherrlichen. Aber das christliche Leben besteht nicht in Außergewöhnlichem, sondern in der Stille der täglichen Pflichterfüllung. In allen Berufen gibt es genug Vorbilder eines heiligmäßigen Lebens. Aber wer spricht von ihnen, wenn nichts geschieht, was der Sensationsgier der Leute entgegenkommt? Hätte P. Pio, hätten Anna Katharina Emmerick und Therese Neumann nicht Wundmale gehabt, wer würde von ihnen sprechen? Bei den drei genannten Personen handelt es sich noch dazu eindeutig um pathologisch veranlagte Menschen. Sie sind nicht die einzigen also veranlagten Menschen, die dem katholischen Volk als Vorbilder hingestellt werden. Wir stehen vor einer tiefeingewurzelten, von verantwortlichen kirchlichen Stellen nicht bloß geduldeten, sondern offensichtlich geförderten Mentalität, die eindeutig Pathologisches als "heiligmäßig" darstellt. Was nutzt das Reden von echter, gesunder Frömmigkeit, wenn man dem gläubigen Volk Typen als Vorbilder hinstellt, denen das Krankhafte auf die Stirne geschrieben steht!

Dem Verfasser dieser Schrift liegt es ferne, P. Pio irgendwie zu verurteilen. Der Pater hat sich seine Veranlagung nicht selbst gegeben und vieles, was mit seinem Namen verbunden wird, haben andere zu verantworten. Es geht um die Sache, nicht um die Person. Es geht vor allem um die Abwehr einer blinden, unkritischen Wundersucht, die in unserer Zeit nicht weniger verbreitet ist als früher. Vieles von dem, was in Verbindung mit P. Pio als Mystik bezeichnet wird, gehört in das Gebiet der Pseudomystik. Auf Pseudomystik aufbauende Frömmigkeit ist in Wirklichkeit Pseudereligion.